Um die Hoheit dieser Bestimmung zu fühlen, lasset uns bedenken, was in den großen Gaben Vernunft und Frei- heit liegt und wieviel die Natur gleichsam wagte, da sie die selbe einer so schwachen vielfachgemischten Erdorganisation, als der Mensch ist, anvertraute. Das Thier ist nur ein ge- bückter Sklave; wenn gleich einige edlere derselben ihr Haupt empor heben oder wenigstens mit vorgerecktem Halse sich nach Freiheit sehnen. Jhre noch nicht zur Vernunft gereifte Seele muß nothdürftigen Trieben dienen und in diesem Dienst sich erst zum eignen Gebrauch der Sinne und Neigungen von fern bereiten. Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie die Natur ihm zwo freie Hände zu Werkzeugen gab und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu leiten: so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen darf, selbst Gewicht zu seyn auf der Waage. Er kann dem trüglichsten Jrrthum Schein geben und ein freiwillig Betrogener werden: er kann die Ketten, die ihn, seiner Na- tur entgegen, fesseln, mit der Zeit lieben lernen und sie mit mancherlei Blumen bekränzen. Wie es also mit der ge- täuschten Vernunft ging, gehets auch mit der mißbrauchten oder gefesselten Freiheit; sie ist bei den meisten das Ver-
hältniß
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Um die Hoheit dieſer Beſtimmung zu fuͤhlen, laſſet uns bedenken, was in den großen Gaben Vernunft und Frei- heit liegt und wieviel die Natur gleichſam wagte, da ſie die ſelbe einer ſo ſchwachen vielfachgemiſchten Erdorganiſation, als der Menſch iſt, anvertraute. Das Thier iſt nur ein ge- buͤckter Sklave; wenn gleich einige edlere derſelben ihr Haupt empor heben oder wenigſtens mit vorgerecktem Halſe ſich nach Freiheit ſehnen. Jhre noch nicht zur Vernunft gereifte Seele muß nothduͤrftigen Trieben dienen und in dieſem Dienſt ſich erſt zum eignen Gebrauch der Sinne und Neigungen von fern bereiten. Der Menſch iſt der erſte Freigelaſſene der Schoͤpfung; er ſtehet aufrecht. Die Waage des Guten und Boͤſen, des Falſchen und Wahren haͤngt in ihm: er kann forſchen, er ſoll waͤhlen. Wie die Natur ihm zwo freie Haͤnde zu Werkzeugen gab und ein uͤberblickendes Auge, ſeinen Gang zu leiten: ſo hat er auch in ſich die Macht, nicht nur die Gewichte zu ſtellen, ſondern auch, wenn ich ſo ſagen darf, ſelbſt Gewicht zu ſeyn auf der Waage. Er kann dem truͤglichſten Jrrthum Schein geben und ein freiwillig Betrogener werden: er kann die Ketten, die ihn, ſeiner Na- tur entgegen, feſſeln, mit der Zeit lieben lernen und ſie mit mancherlei Blumen bekraͤnzen. Wie es alſo mit der ge- taͤuſchten Vernunft ging, gehets auch mit der mißbrauchten oder gefeſſelten Freiheit; ſie iſt bei den meiſten das Ver-
haͤltniß
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[231[211]/0233]
Um die Hoheit dieſer Beſtimmung zu fuͤhlen, laſſet uns
bedenken, was in den großen Gaben Vernunft und Frei-
heit liegt und wieviel die Natur gleichſam wagte, da ſie die
ſelbe einer ſo ſchwachen vielfachgemiſchten Erdorganiſation,
als der Menſch iſt, anvertraute. Das Thier iſt nur ein ge-
buͤckter Sklave; wenn gleich einige edlere derſelben ihr Haupt
empor heben oder wenigſtens mit vorgerecktem Halſe ſich
nach Freiheit ſehnen. Jhre noch nicht zur Vernunft gereifte
Seele muß nothduͤrftigen Trieben dienen und in dieſem Dienſt
ſich erſt zum eignen Gebrauch der Sinne und Neigungen
von fern bereiten. Der Menſch iſt der erſte Freigelaſſene
der Schoͤpfung; er ſtehet aufrecht. Die Waage des Guten
und Boͤſen, des Falſchen und Wahren haͤngt in ihm: er
kann forſchen, er ſoll waͤhlen. Wie die Natur ihm zwo
freie Haͤnde zu Werkzeugen gab und ein uͤberblickendes Auge,
ſeinen Gang zu leiten: ſo hat er auch in ſich die Macht, nicht
nur die Gewichte zu ſtellen, ſondern auch, wenn ich ſo ſagen
darf, ſelbſt Gewicht zu ſeyn auf der Waage. Er kann
dem truͤglichſten Jrrthum Schein geben und ein freiwillig
Betrogener werden: er kann die Ketten, die ihn, ſeiner Na-
tur entgegen, feſſeln, mit der Zeit lieben lernen und ſie mit
mancherlei Blumen bekraͤnzen. Wie es alſo mit der ge-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 231[211]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/233>, abgerufen am 21.11.2024.
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