Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

hältniß der Kräfte und Triebe, wie Bequemlichkeit oder Ge-
wohnheit sie vestgestellet haben. Selten blickt der Mensch
über diese hinaus und kann oft, wenn niedrige Triebe ihn
fesseln und abscheuliche Gewohnheiten ihn binden, ärger als
ein Thier werden.

Jndessen ist er, auch seiner Freiheit nach, und selbst im
ärgsten Mißbrauch derselben ein König. Er darf doch wäh-
len, wenn er auch das Schlechteste wählte: er kann über sich
gebieten, wenn er sich auch zum Niedrigsten aus eigner Wahl
bestimmte. Vor dem Allsehenden, der diese Kräfte in ihn
legte, ist freilich sowohl seine Vernunft als Freiheit begränzt
und sie ist glücklich begränzt, weil der die Quelle schuf, auch
jeden Ausfluß derselben kennen, vorhersehen und so zu len-
ken wissen mußte, daß der ausschweifendste Bach seinen Hän-
den nimmer entrann; in der Sache selbst aber und in der
Natur des Menschen wird dadurch nichts geändert. Er ist
und bleibt für sich ein freies Geschöpf, obwohl die allumfas-
sende Güte ihn auch in seinen Thorheiten umfasset und diese
zu seinem und dem allgemeinen Besten lenket. Wie kein ge-
triebenes Geschoß der Atmosphäre entfliehen kann; aber
auch, wenn es zurück fällt, nach Einen und denselben Natur-
gesetzen wirket: so ist der Mensch im Jrrthum und in der
Wahrheit, im Fallen und Wiederaufstehen Mensch, zwar ein

schwa-

haͤltniß der Kraͤfte und Triebe, wie Bequemlichkeit oder Ge-
wohnheit ſie veſtgeſtellet haben. Selten blickt der Menſch
uͤber dieſe hinaus und kann oft, wenn niedrige Triebe ihn
feſſeln und abſcheuliche Gewohnheiten ihn binden, aͤrger als
ein Thier werden.

Jndeſſen iſt er, auch ſeiner Freiheit nach, und ſelbſt im
aͤrgſten Mißbrauch derſelben ein Koͤnig. Er darf doch waͤh-
len, wenn er auch das Schlechteſte waͤhlte: er kann uͤber ſich
gebieten, wenn er ſich auch zum Niedrigſten aus eigner Wahl
beſtimmte. Vor dem Allſehenden, der dieſe Kraͤfte in ihn
legte, iſt freilich ſowohl ſeine Vernunft als Freiheit begraͤnzt
und ſie iſt gluͤcklich begraͤnzt, weil der die Quelle ſchuf, auch
jeden Ausfluß derſelben kennen, vorherſehen und ſo zu len-
ken wiſſen mußte, daß der ausſchweifendſte Bach ſeinen Haͤn-
den nimmer entrann; in der Sache ſelbſt aber und in der
Natur des Menſchen wird dadurch nichts geaͤndert. Er iſt
und bleibt fuͤr ſich ein freies Geſchoͤpf, obwohl die allumfaſ-
ſende Guͤte ihn auch in ſeinen Thorheiten umfaſſet und dieſe
zu ſeinem und dem allgemeinen Beſten lenket. Wie kein ge-
triebenes Geſchoß der Atmoſphaͤre entfliehen kann; aber
auch, wenn es zuruͤck faͤllt, nach Einen und denſelben Natur-
geſetzen wirket: ſo iſt der Menſch im Jrrthum und in der
Wahrheit, im Fallen und Wiederaufſtehen Menſch, zwar ein

ſchwa-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0234" n="232[212]"/>
ha&#x0364;ltniß der Kra&#x0364;fte und Triebe, wie Bequemlichkeit oder Ge-<lb/>
wohnheit &#x017F;ie ve&#x017F;tge&#x017F;tellet haben. Selten blickt der Men&#x017F;ch<lb/>
u&#x0364;ber die&#x017F;e hinaus und kann oft, wenn niedrige Triebe ihn<lb/>
fe&#x017F;&#x017F;eln und ab&#x017F;cheuliche Gewohnheiten ihn binden, a&#x0364;rger als<lb/>
ein Thier werden.</p><lb/>
          <p>Jnde&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t er, auch &#x017F;einer Freiheit nach, und &#x017F;elb&#x017F;t im<lb/>
a&#x0364;rg&#x017F;ten Mißbrauch der&#x017F;elben ein Ko&#x0364;nig. Er darf doch wa&#x0364;h-<lb/>
len, wenn er auch das Schlechte&#x017F;te wa&#x0364;hlte: er kann u&#x0364;ber &#x017F;ich<lb/>
gebieten, wenn er &#x017F;ich auch zum Niedrig&#x017F;ten aus eigner Wahl<lb/>
be&#x017F;timmte. Vor dem All&#x017F;ehenden, der die&#x017F;e Kra&#x0364;fte in ihn<lb/>
legte, i&#x017F;t freilich &#x017F;owohl &#x017F;eine Vernunft als Freiheit begra&#x0364;nzt<lb/>
und &#x017F;ie i&#x017F;t glu&#x0364;cklich begra&#x0364;nzt, weil der die Quelle &#x017F;chuf, auch<lb/>
jeden Ausfluß der&#x017F;elben kennen, vorher&#x017F;ehen und &#x017F;o zu len-<lb/>
ken wi&#x017F;&#x017F;en mußte, daß der aus&#x017F;chweifend&#x017F;te Bach &#x017F;einen Ha&#x0364;n-<lb/>
den nimmer entrann; in der Sache &#x017F;elb&#x017F;t aber und in der<lb/>
Natur des Men&#x017F;chen wird dadurch nichts gea&#x0364;ndert. Er i&#x017F;t<lb/>
und bleibt fu&#x0364;r &#x017F;ich ein freies Ge&#x017F;cho&#x0364;pf, obwohl die allumfa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ende Gu&#x0364;te ihn auch in &#x017F;einen Thorheiten umfa&#x017F;&#x017F;et und die&#x017F;e<lb/>
zu &#x017F;einem und dem allgemeinen Be&#x017F;ten lenket. Wie kein ge-<lb/>
triebenes Ge&#x017F;choß der Atmo&#x017F;pha&#x0364;re entfliehen kann; aber<lb/>
auch, wenn es zuru&#x0364;ck fa&#x0364;llt, nach Einen und den&#x017F;elben Natur-<lb/>
ge&#x017F;etzen wirket: &#x017F;o i&#x017F;t der Men&#x017F;ch im Jrrthum und in der<lb/>
Wahrheit, im Fallen und Wiederauf&#x017F;tehen Men&#x017F;ch, zwar ein<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chwa-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[232[212]/0234] haͤltniß der Kraͤfte und Triebe, wie Bequemlichkeit oder Ge- wohnheit ſie veſtgeſtellet haben. Selten blickt der Menſch uͤber dieſe hinaus und kann oft, wenn niedrige Triebe ihn feſſeln und abſcheuliche Gewohnheiten ihn binden, aͤrger als ein Thier werden. Jndeſſen iſt er, auch ſeiner Freiheit nach, und ſelbſt im aͤrgſten Mißbrauch derſelben ein Koͤnig. Er darf doch waͤh- len, wenn er auch das Schlechteſte waͤhlte: er kann uͤber ſich gebieten, wenn er ſich auch zum Niedrigſten aus eigner Wahl beſtimmte. Vor dem Allſehenden, der dieſe Kraͤfte in ihn legte, iſt freilich ſowohl ſeine Vernunft als Freiheit begraͤnzt und ſie iſt gluͤcklich begraͤnzt, weil der die Quelle ſchuf, auch jeden Ausfluß derſelben kennen, vorherſehen und ſo zu len- ken wiſſen mußte, daß der ausſchweifendſte Bach ſeinen Haͤn- den nimmer entrann; in der Sache ſelbſt aber und in der Natur des Menſchen wird dadurch nichts geaͤndert. Er iſt und bleibt fuͤr ſich ein freies Geſchoͤpf, obwohl die allumfaſ- ſende Guͤte ihn auch in ſeinen Thorheiten umfaſſet und dieſe zu ſeinem und dem allgemeinen Beſten lenket. Wie kein ge- triebenes Geſchoß der Atmoſphaͤre entfliehen kann; aber auch, wenn es zuruͤck faͤllt, nach Einen und denſelben Natur- geſetzen wirket: ſo iſt der Menſch im Jrrthum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederaufſtehen Menſch, zwar ein ſchwa-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/234
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 232[212]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/234>, abgerufen am 21.11.2024.