Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

kommt: desto mehr Sympathie erregt es in seinem Leiden.
Es haben harte Nerven dazu gehört, ein Geschöpf lebendig
zu öfnen und in seinen Zuckungen zu behorchen; nur der un-
ersättliche Durst nach Ruhm und Wissenschaft konnte allmä-
lich dies organische Mitgefühl betäuben. Zärtere Weiber
können sogar die Zergliederung eines Todten nicht ertragen:
sie empfinden Schmerz in jedem Gliede, das vor ihren Augen ge-
waltsam zerstört wird, besonders je zarter und edler die Theile
selbst werden. Ein durchwühltes Eingeweide erregt Grauen
und Abscheu; ein zerschnittenes Herz, eine zerspaltne Lunge, ein
zerstörtes Gehirn schneidet und sticht mit dem Messer in un-
sre eignen Glieder. Am Leichnam eines geliebten Todten
nehmen wir noch in seinem Grabe Theil: wir fühlen die kal-
te Höle, die er nicht mehr fühlet und Schauder überläuft
uns, wenn wir sein Gebein nur berühren. So sympathe-
tisch webte die allgemeine Mutter, die alles aus sich nahm
und mit allem in der innigsten Sympathie mitfühlet, den
menschlichen Körper. Sein vibrirendes Fibernsystem, sein
Theilnehmendes Nervengebäude hat des Aufrufs der Ver-
nunft nicht nöthig; es kommt ihr zuvor, ja es setzet sich ihr
oft mächtig und widersinnig entgegen. Der Umgang mit
Wahnsinnigen, an denen wir Theil nehmen, erregt selbst
Wahnsinn und desto eher, je mehr sich der Mensch davor
fürchtet.


Son-

kommt: deſto mehr Sympathie erregt es in ſeinem Leiden.
Es haben harte Nerven dazu gehoͤrt, ein Geſchoͤpf lebendig
zu oͤfnen und in ſeinen Zuckungen zu behorchen; nur der un-
erſaͤttliche Durſt nach Ruhm und Wiſſenſchaft konnte allmaͤ-
lich dies organiſche Mitgefuͤhl betaͤuben. Zaͤrtere Weiber
koͤnnen ſogar die Zergliederung eines Todten nicht ertragen:
ſie empfinden Schmerz in jedem Gliede, das vor ihren Augen ge-
waltſam zerſtoͤrt wird, beſonders je zarter und edler die Theile
ſelbſt werden. Ein durchwuͤhltes Eingeweide erregt Grauen
und Abſcheu; ein zerſchnittenes Herz, eine zerſpaltne Lunge, ein
zerſtoͤrtes Gehirn ſchneidet und ſticht mit dem Meſſer in un-
ſre eignen Glieder. Am Leichnam eines geliebten Todten
nehmen wir noch in ſeinem Grabe Theil: wir fuͤhlen die kal-
te Hoͤle, die er nicht mehr fuͤhlet und Schauder uͤberlaͤuft
uns, wenn wir ſein Gebein nur beruͤhren. So ſympathe-
tiſch webte die allgemeine Mutter, die alles aus ſich nahm
und mit allem in der innigſten Sympathie mitfuͤhlet, den
menſchlichen Koͤrper. Sein vibrirendes Fibernſyſtem, ſein
Theilnehmendes Nervengebaͤude hat des Aufrufs der Ver-
nunft nicht noͤthig; es kommt ihr zuvor, ja es ſetzet ſich ihr
oft maͤchtig und widerſinnig entgegen. Der Umgang mit
Wahnſinnigen, an denen wir Theil nehmen, erregt ſelbſt
Wahnſinn und deſto eher, je mehr ſich der Menſch davor
fuͤrchtet.


Son-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0250" n="248[228]"/>
kommt: de&#x017F;to mehr Sympathie erregt es in &#x017F;einem Leiden.<lb/>
Es haben harte Nerven dazu geho&#x0364;rt, ein Ge&#x017F;cho&#x0364;pf lebendig<lb/>
zu o&#x0364;fnen und in &#x017F;einen Zuckungen zu behorchen; nur der un-<lb/>
er&#x017F;a&#x0364;ttliche Dur&#x017F;t nach Ruhm und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft konnte allma&#x0364;-<lb/>
lich dies organi&#x017F;che Mitgefu&#x0364;hl beta&#x0364;uben. Za&#x0364;rtere Weiber<lb/>
ko&#x0364;nnen &#x017F;ogar die Zergliederung eines Todten nicht ertragen:<lb/>
&#x017F;ie empfinden Schmerz in jedem Gliede, das vor ihren Augen ge-<lb/>
walt&#x017F;am zer&#x017F;to&#x0364;rt wird, be&#x017F;onders je zarter und edler die Theile<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t werden. Ein durchwu&#x0364;hltes Eingeweide erregt Grauen<lb/>
und Ab&#x017F;cheu; ein zer&#x017F;chnittenes Herz, eine zer&#x017F;paltne Lunge, ein<lb/>
zer&#x017F;to&#x0364;rtes Gehirn &#x017F;chneidet und &#x017F;ticht mit dem Me&#x017F;&#x017F;er in un-<lb/>
&#x017F;re eignen Glieder. Am Leichnam eines geliebten Todten<lb/>
nehmen wir noch in &#x017F;einem Grabe Theil: wir fu&#x0364;hlen die kal-<lb/>
te Ho&#x0364;le, die er nicht mehr fu&#x0364;hlet und Schauder u&#x0364;berla&#x0364;uft<lb/>
uns, wenn wir &#x017F;ein Gebein nur beru&#x0364;hren. So &#x017F;ympathe-<lb/>
ti&#x017F;ch webte die allgemeine Mutter, die alles aus &#x017F;ich nahm<lb/>
und mit allem in der innig&#x017F;ten Sympathie mitfu&#x0364;hlet, den<lb/>
men&#x017F;chlichen Ko&#x0364;rper. Sein vibrirendes Fibern&#x017F;y&#x017F;tem, &#x017F;ein<lb/>
Theilnehmendes Nervengeba&#x0364;ude hat des Aufrufs der Ver-<lb/>
nunft nicht no&#x0364;thig; es kommt ihr zuvor, ja es &#x017F;etzet &#x017F;ich ihr<lb/>
oft ma&#x0364;chtig und wider&#x017F;innig entgegen. Der Umgang mit<lb/>
Wahn&#x017F;innigen, an denen wir Theil nehmen, erregt &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
Wahn&#x017F;inn und de&#x017F;to eher, je mehr &#x017F;ich der Men&#x017F;ch davor<lb/>
fu&#x0364;rchtet.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Son-</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[248[228]/0250] kommt: deſto mehr Sympathie erregt es in ſeinem Leiden. Es haben harte Nerven dazu gehoͤrt, ein Geſchoͤpf lebendig zu oͤfnen und in ſeinen Zuckungen zu behorchen; nur der un- erſaͤttliche Durſt nach Ruhm und Wiſſenſchaft konnte allmaͤ- lich dies organiſche Mitgefuͤhl betaͤuben. Zaͤrtere Weiber koͤnnen ſogar die Zergliederung eines Todten nicht ertragen: ſie empfinden Schmerz in jedem Gliede, das vor ihren Augen ge- waltſam zerſtoͤrt wird, beſonders je zarter und edler die Theile ſelbſt werden. Ein durchwuͤhltes Eingeweide erregt Grauen und Abſcheu; ein zerſchnittenes Herz, eine zerſpaltne Lunge, ein zerſtoͤrtes Gehirn ſchneidet und ſticht mit dem Meſſer in un- ſre eignen Glieder. Am Leichnam eines geliebten Todten nehmen wir noch in ſeinem Grabe Theil: wir fuͤhlen die kal- te Hoͤle, die er nicht mehr fuͤhlet und Schauder uͤberlaͤuft uns, wenn wir ſein Gebein nur beruͤhren. So ſympathe- tiſch webte die allgemeine Mutter, die alles aus ſich nahm und mit allem in der innigſten Sympathie mitfuͤhlet, den menſchlichen Koͤrper. Sein vibrirendes Fibernſyſtem, ſein Theilnehmendes Nervengebaͤude hat des Aufrufs der Ver- nunft nicht noͤthig; es kommt ihr zuvor, ja es ſetzet ſich ihr oft maͤchtig und widerſinnig entgegen. Der Umgang mit Wahnſinnigen, an denen wir Theil nehmen, erregt ſelbſt Wahnſinn und deſto eher, je mehr ſich der Menſch davor fuͤrchtet. Son-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/250
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 248[228]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/250>, abgerufen am 05.05.2024.