die sie als einen Theil von sich nähret. -- Auf dies innigste Mitgefühl sind in der Haushaltung des Thiers alle die zär- ten Triebe gebauet, dazu die Natur sein Geschlecht veredeln konnte.
Bei dem Menschen ist die Mutterliebe höherer Art; eine Sprosse der Humanität seiner aufgerichteten Bildung. Unter dem Auge der Mutter liegt der Säugling auf ihrem Schoos und trinkt die zarteste und feinste Speise; eine thie- rische und selbst den Körper verunstaltende Art ists, wenn Völker, von Noth gezwungen, ihre Kinder, auf dem Rücken säugen. Den größten Unmenschen zähmt die väterliche und häusliche Liebe: denn auch eine Löwenmutter ist gegen ihre Jungen freundlich. Jm väterlichen Hause entstand die erste Gesellschaft, durch Bande des Bluts, des Zutrauens und der Liebe verbunden. Also auch um die Wildheit der Men- schen zu brechen und sie zum häuslichen Umgange zu gewöh- nen, sollte die Kindheit unsres Geschlechts lange Jahre dau- ren; die Natur zwang und hielt es durch zarte Bande zu- sammen, daß es sich nicht, wie die bald ausgebildeten Thie- re, zerstreuen und vergessen konnte. Nun ward der Vater der Erzieher seines Sohns, wie die Mutter seine Säugerin gewesen war; und so ward ein neues Glied der Humanität geknüpfet. Hier lag nemlich der Grund zu einer nothwen-
digen
die ſie als einen Theil von ſich naͤhret. — Auf dies innigſte Mitgefuͤhl ſind in der Haushaltung des Thiers alle die zaͤr- ten Triebe gebauet, dazu die Natur ſein Geſchlecht veredeln konnte.
Bei dem Menſchen iſt die Mutterliebe hoͤherer Art; eine Sproſſe der Humanitaͤt ſeiner aufgerichteten Bildung. Unter dem Auge der Mutter liegt der Saͤugling auf ihrem Schoos und trinkt die zarteſte und feinſte Speiſe; eine thie- riſche und ſelbſt den Koͤrper verunſtaltende Art iſts, wenn Voͤlker, von Noth gezwungen, ihre Kinder, auf dem Ruͤcken ſaͤugen. Den groͤßten Unmenſchen zaͤhmt die vaͤterliche und haͤusliche Liebe: denn auch eine Loͤwenmutter iſt gegen ihre Jungen freundlich. Jm vaͤterlichen Hauſe entſtand die erſte Geſellſchaft, durch Bande des Bluts, des Zutrauens und der Liebe verbunden. Alſo auch um die Wildheit der Men- ſchen zu brechen und ſie zum haͤuslichen Umgange zu gewoͤh- nen, ſollte die Kindheit unſres Geſchlechts lange Jahre dau- ren; die Natur zwang und hielt es durch zarte Bande zu- ſammen, daß es ſich nicht, wie die bald ausgebildeten Thie- re, zerſtreuen und vergeſſen konnte. Nun ward der Vater der Erzieher ſeines Sohns, wie die Mutter ſeine Saͤugerin geweſen war; und ſo ward ein neues Glied der Humanitaͤt geknuͤpfet. Hier lag nemlich der Grund zu einer nothwen-
digen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0253"n="251[231]"/>
die ſie als einen Theil von ſich naͤhret. — Auf dies innigſte<lb/>
Mitgefuͤhl ſind in der Haushaltung des Thiers alle die zaͤr-<lb/>
ten Triebe gebauet, dazu die Natur ſein Geſchlecht veredeln<lb/>
konnte.</p><lb/><p>Bei dem Menſchen iſt die Mutterliebe hoͤherer Art;<lb/>
eine Sproſſe der Humanitaͤt ſeiner aufgerichteten Bildung.<lb/>
Unter dem Auge der Mutter liegt der Saͤugling auf ihrem<lb/>
Schoos und trinkt die zarteſte und feinſte Speiſe; eine thie-<lb/>
riſche und ſelbſt den Koͤrper verunſtaltende Art iſts, wenn<lb/>
Voͤlker, von Noth gezwungen, ihre Kinder, auf dem Ruͤcken<lb/>ſaͤugen. Den groͤßten Unmenſchen zaͤhmt die vaͤterliche und<lb/>
haͤusliche Liebe: denn auch eine Loͤwenmutter iſt gegen ihre<lb/>
Jungen freundlich. Jm vaͤterlichen Hauſe entſtand die erſte<lb/>
Geſellſchaft, durch Bande des Bluts, des Zutrauens und<lb/>
der Liebe verbunden. Alſo auch um die Wildheit der Men-<lb/>ſchen zu brechen und ſie zum haͤuslichen Umgange zu gewoͤh-<lb/>
nen, ſollte die Kindheit unſres Geſchlechts lange Jahre dau-<lb/>
ren; die Natur zwang und hielt es durch zarte Bande zu-<lb/>ſammen, daß es ſich nicht, wie die bald ausgebildeten Thie-<lb/>
re, zerſtreuen und vergeſſen konnte. Nun ward der Vater<lb/>
der Erzieher ſeines Sohns, wie die Mutter ſeine Saͤugerin<lb/>
geweſen war; und ſo ward ein neues Glied der Humanitaͤt<lb/>
geknuͤpfet. Hier lag nemlich der Grund zu einer nothwen-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">digen</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[251[231]/0253]
die ſie als einen Theil von ſich naͤhret. — Auf dies innigſte
Mitgefuͤhl ſind in der Haushaltung des Thiers alle die zaͤr-
ten Triebe gebauet, dazu die Natur ſein Geſchlecht veredeln
konnte.
Bei dem Menſchen iſt die Mutterliebe hoͤherer Art;
eine Sproſſe der Humanitaͤt ſeiner aufgerichteten Bildung.
Unter dem Auge der Mutter liegt der Saͤugling auf ihrem
Schoos und trinkt die zarteſte und feinſte Speiſe; eine thie-
riſche und ſelbſt den Koͤrper verunſtaltende Art iſts, wenn
Voͤlker, von Noth gezwungen, ihre Kinder, auf dem Ruͤcken
ſaͤugen. Den groͤßten Unmenſchen zaͤhmt die vaͤterliche und
haͤusliche Liebe: denn auch eine Loͤwenmutter iſt gegen ihre
Jungen freundlich. Jm vaͤterlichen Hauſe entſtand die erſte
Geſellſchaft, durch Bande des Bluts, des Zutrauens und
der Liebe verbunden. Alſo auch um die Wildheit der Men-
ſchen zu brechen und ſie zum haͤuslichen Umgange zu gewoͤh-
nen, ſollte die Kindheit unſres Geſchlechts lange Jahre dau-
ren; die Natur zwang und hielt es durch zarte Bande zu-
ſammen, daß es ſich nicht, wie die bald ausgebildeten Thie-
re, zerſtreuen und vergeſſen konnte. Nun ward der Vater
der Erzieher ſeines Sohns, wie die Mutter ſeine Saͤugerin
geweſen war; und ſo ward ein neues Glied der Humanitaͤt
geknuͤpfet. Hier lag nemlich der Grund zu einer nothwen-
digen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 251[231]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/253>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.