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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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kennbar. Die Väter, die von Noth und Hunger gezwun-
gen, ihre Kinder dem Tode opfern, weihen sie in Mutterleibe
demselben, ehe sie ihr Auge gesehn, ehe sie ihre Stimme ge-
hört haben und manche Kindermörderin bekannte, daß ihr
nichts so schwer geworden und so lang im Gedächtniß geblie-
ben sei als der erste weinende Laut, die flehende Stimme des
Kindes.

4. Schön ist die Kette, an der die allfühlende Mutter
die Mitempfindungen ihrer Kinder hält und sie von Gliede
zu Gliede hinaufbildet. Wo das Geschöpf noch stumpf und
roh ist, kaum für sich zu sorgen: da ward ihm auch die Sor-
ge für seine Kinder nicht anvertrauet. Die Vögel brüten
und erziehn ihre Jungen mit Mutterliebe; der sinnlose
Strauß dagegen gibt seine Eier dem Sande. "Er vergißet,
sagt jenes alte Buch von ihm, daß eine Klaue sie zertrete
oder ein wildes Thier sie verderbe: denn Gott hat ihm die
Weisheit genommen und hat ihm keinen Verstand mitgethei-
let." Durch eine und dieselbe organische Ursache, dadurch
das Geschöpf mehr Gehirn empfängt, empfängt es auch mehr
Wärme, gebiehrt Lebendige oder brütet sie aus, säugt und be-
kommt mütterliche Liebe. Das lebendig gebohrne Geschöpf
ist gleichsam ein Knäuel der Nerven des mütterlichen Wesens;
das selbstgesäugte Kind ist eine Sproße der Mutterpflanze,

die

kennbar. Die Vaͤter, die von Noth und Hunger gezwun-
gen, ihre Kinder dem Tode opfern, weihen ſie in Mutterleibe
demſelben, ehe ſie ihr Auge geſehn, ehe ſie ihre Stimme ge-
hoͤrt haben und manche Kindermoͤrderin bekannte, daß ihr
nichts ſo ſchwer geworden und ſo lang im Gedaͤchtniß geblie-
ben ſei als der erſte weinende Laut, die flehende Stimme des
Kindes.

4. Schoͤn iſt die Kette, an der die allfuͤhlende Mutter
die Mitempfindungen ihrer Kinder haͤlt und ſie von Gliede
zu Gliede hinaufbildet. Wo das Geſchoͤpf noch ſtumpf und
roh iſt, kaum fuͤr ſich zu ſorgen: da ward ihm auch die Sor-
ge fuͤr ſeine Kinder nicht anvertrauet. Die Voͤgel bruͤten
und erziehn ihre Jungen mit Mutterliebe; der ſinnloſe
Strauß dagegen gibt ſeine Eier dem Sande. „Er vergißet,
ſagt jenes alte Buch von ihm, daß eine Klaue ſie zertrete
oder ein wildes Thier ſie verderbe: denn Gott hat ihm die
Weisheit genommen und hat ihm keinen Verſtand mitgethei-
let.„ Durch eine und dieſelbe organiſche Urſache, dadurch
das Geſchoͤpf mehr Gehirn empfaͤngt, empfaͤngt es auch mehr
Waͤrme, gebiehrt Lebendige oder bruͤtet ſie aus, ſaͤugt und be-
kommt muͤtterliche Liebe. Das lebendig gebohrne Geſchoͤpf
iſt gleichſam ein Knaͤuel der Nerven des muͤtterlichen Weſens;
das ſelbſtgeſaͤugte Kind iſt eine Sproße der Mutterpflanze,

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[250[230]/0252] kennbar. Die Vaͤter, die von Noth und Hunger gezwun- gen, ihre Kinder dem Tode opfern, weihen ſie in Mutterleibe demſelben, ehe ſie ihr Auge geſehn, ehe ſie ihre Stimme ge- hoͤrt haben und manche Kindermoͤrderin bekannte, daß ihr nichts ſo ſchwer geworden und ſo lang im Gedaͤchtniß geblie- ben ſei als der erſte weinende Laut, die flehende Stimme des Kindes. 4. Schoͤn iſt die Kette, an der die allfuͤhlende Mutter die Mitempfindungen ihrer Kinder haͤlt und ſie von Gliede zu Gliede hinaufbildet. Wo das Geſchoͤpf noch ſtumpf und roh iſt, kaum fuͤr ſich zu ſorgen: da ward ihm auch die Sor- ge fuͤr ſeine Kinder nicht anvertrauet. Die Voͤgel bruͤten und erziehn ihre Jungen mit Mutterliebe; der ſinnloſe Strauß dagegen gibt ſeine Eier dem Sande. „Er vergißet, ſagt jenes alte Buch von ihm, daß eine Klaue ſie zertrete oder ein wildes Thier ſie verderbe: denn Gott hat ihm die Weisheit genommen und hat ihm keinen Verſtand mitgethei- let.„ Durch eine und dieſelbe organiſche Urſache, dadurch das Geſchoͤpf mehr Gehirn empfaͤngt, empfaͤngt es auch mehr Waͤrme, gebiehrt Lebendige oder bruͤtet ſie aus, ſaͤugt und be- kommt muͤtterliche Liebe. Das lebendig gebohrne Geſchoͤpf iſt gleichſam ein Knaͤuel der Nerven des muͤtterlichen Weſens; das ſelbſtgeſaͤugte Kind iſt eine Sproße der Mutterpflanze, die

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 250[230]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/252>, abgerufen am 10.05.2024.