mer doch, so dunkel es war, Ursachen der Dinge nach. Frei- lich hielten sie sich mehr an die Begebenheiten als an die Wesen der Natur: mehr an ihre fürchterliche und vor- übergehende als an die erfreuende und daurende Seite; auch kamen sie selten so weit, alle Ursachen unter Eine zu ordnen. Jndessen war auch dieser erste Versuch Religion; und es heißt nichts gesagt, daß Furcht bei den meisten ihre Götter erfunden. Die Furcht, als solche, erfindet nichts: sie weckt blos den Verstand, zu muthmaßen und wahr oder falsch zu ahnen. Sobald der Mensch also seinen Verstand in der leichtesten Anregung brauchen lernte, d. i. so bald er die Welt anders als ein Thier ansah, mußte er unsichtbare mächtigere Wesen vermuthen, die ihm helfen oder ihm schaden. Diese suchte er sich zu Freunden zu machen oder zu erhalten und so ward die Religion, wahr oder falsch, recht oder irre geführt, die Belehrerin der Menschen, die rathgebende Trösterin ih- res so dunkeln, so Gefahr- und Labyrinthvollen Lebens.
Nein! du hast dich deinen Geschöpfen nicht unbezeugt gelassen, du ewige Quelle alles Lebens, aller Wesen und For- men. Das gebückte Thier empfindet dunkel deine Macht und Güte, indem es seiner Organisation nach, Kräfte und Neigungen übt: ihm ist der Mensch die sichtbare Gottheit der Erde. Aber den Menschen erhobst du, daß er selbst ohne
daß
mer doch, ſo dunkel es war, Urſachen der Dinge nach. Frei- lich hielten ſie ſich mehr an die Begebenheiten als an die Weſen der Natur: mehr an ihre fuͤrchterliche und vor- uͤbergehende als an die erfreuende und daurende Seite; auch kamen ſie ſelten ſo weit, alle Urſachen unter Eine zu ordnen. Jndeſſen war auch dieſer erſte Verſuch Religion; und es heißt nichts geſagt, daß Furcht bei den meiſten ihre Goͤtter erfunden. Die Furcht, als ſolche, erfindet nichts: ſie weckt blos den Verſtand, zu muthmaßen und wahr oder falſch zu ahnen. Sobald der Menſch alſo ſeinen Verſtand in der leichteſten Anregung brauchen lernte, d. i. ſo bald er die Welt anders als ein Thier anſah, mußte er unſichtbare maͤchtigere Weſen vermuthen, die ihm helfen oder ihm ſchaden. Dieſe ſuchte er ſich zu Freunden zu machen oder zu erhalten und ſo ward die Religion, wahr oder falſch, recht oder irre gefuͤhrt, die Belehrerin der Menſchen, die rathgebende Troͤſterin ih- res ſo dunkeln, ſo Gefahr- und Labyrinthvollen Lebens.
Nein! du haſt dich deinen Geſchoͤpfen nicht unbezeugt gelaſſen, du ewige Quelle alles Lebens, aller Weſen und For- men. Das gebuͤckte Thier empfindet dunkel deine Macht und Guͤte, indem es ſeiner Organiſation nach, Kraͤfte und Neigungen uͤbt: ihm iſt der Menſch die ſichtbare Gottheit der Erde. Aber den Menſchen erhobſt du, daß er ſelbſt ohne
daß
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mer doch, ſo dunkel es war, Urſachen der Dinge nach. Frei-
lich hielten ſie ſich mehr an die Begebenheiten als an
die Weſen der Natur: mehr an ihre fuͤrchterliche und vor-
uͤbergehende als an die erfreuende und daurende Seite; auch
kamen ſie ſelten ſo weit, alle Urſachen unter Eine zu ordnen.
Jndeſſen war auch dieſer erſte Verſuch Religion; und es
heißt nichts geſagt, daß Furcht bei den meiſten ihre Goͤtter
erfunden. Die Furcht, als ſolche, erfindet nichts: ſie weckt
blos den Verſtand, zu muthmaßen und wahr oder falſch zu
ahnen. Sobald der Menſch alſo ſeinen Verſtand in der
leichteſten Anregung brauchen lernte, d. i. ſo bald er die Welt
anders als ein Thier anſah, mußte er unſichtbare maͤchtigere
Weſen vermuthen, die ihm helfen oder ihm ſchaden. Dieſe
ſuchte er ſich zu Freunden zu machen oder zu erhalten und ſo
ward die Religion, wahr oder falſch, recht oder irre gefuͤhrt,
die Belehrerin der Menſchen, die rathgebende Troͤſterin ih-
res ſo dunkeln, ſo Gefahr- und Labyrinthvollen Lebens.
Nein! du haſt dich deinen Geſchoͤpfen nicht unbezeugt
gelaſſen, du ewige Quelle alles Lebens, aller Weſen und For-
men. Das gebuͤckte Thier empfindet dunkel deine Macht
und Guͤte, indem es ſeiner Organiſation nach, Kraͤfte und
Neigungen uͤbt: ihm iſt der Menſch die ſichtbare Gottheit
der Erde. Aber den Menſchen erhobſt du, daß er ſelbſt ohne
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 256[236]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/258>, abgerufen am 25.11.2024.
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