Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

Endlich ist die Religion die höchste Humanität des
Menschen und man verwundre sich nicht, daß ich sie hieher
rechne. Wenn des Menschen vorzüglichste Gabe Verstand
ist: so ists das Geschäft des Verstandes, den Zusammenhang
zwischen Ursache und Wirkung aufzuspähen und denselben
wo er ihn nicht gewahr wird, zu ahnen. Der menschliche Ver-
stand thut dieses in allen Sachen, Handthierungen und Kün-
sten: denn auch, wo er einer angenommenen Fertigkeit folget,
mußte ein früherer Verstand den Zusammenhang zwischen
Ursache und Wirkung vestgesetzt und also diese Kunst einge-
führt haben. Nun sehen wir in den Werken der Natur ei-
gentlich keine Ursache im Jnnersten ein; wir kennen uns selbst
nicht, und wissen nicht, wie irgend Etwas in uns wirket.
Also ist auch bei allen Wirkungen ausser uns alles nur Traum,
nur Vermuthung und Name; indessen ein wahrer Traum,
sobald wir oft und beständig einerlei Wirkungen mit einerlei
Ursachen verknüpft sehen. Dies ist der Gang der Philoso-
phie und die erste und letzte Philosophie ist immer Religion
gewesen. Auch die wildesten Völker haben sich darinn geübt:
denn kein Volk der Erde ist völlig ohne sie, so wenig als
ohne menschliche Vernunftfähigkeit und Gestalt, ohne Spra-
che und Ehe, ohne einige menschliche Sitten und Gebräuche
gefunden worden. Sie glaubten, wo sie keinen sichtbaren
Urheber sahen, an unsichtbare Urheber und forschten also im-

mer
G g 2

Endlich iſt die Religion die hoͤchſte Humanitaͤt des
Menſchen und man verwundre ſich nicht, daß ich ſie hieher
rechne. Wenn des Menſchen vorzuͤglichſte Gabe Verſtand
iſt: ſo iſts das Geſchaͤft des Verſtandes, den Zuſammenhang
zwiſchen Urſache und Wirkung aufzuſpaͤhen und denſelben
wo er ihn nicht gewahr wird, zu ahnen. Der menſchliche Ver-
ſtand thut dieſes in allen Sachen, Handthierungen und Kuͤn-
ſten: denn auch, wo er einer angenommenen Fertigkeit folget,
mußte ein fruͤherer Verſtand den Zuſammenhang zwiſchen
Urſache und Wirkung veſtgeſetzt und alſo dieſe Kunſt einge-
fuͤhrt haben. Nun ſehen wir in den Werken der Natur ei-
gentlich keine Urſache im Jnnerſten ein; wir kennen uns ſelbſt
nicht, und wiſſen nicht, wie irgend Etwas in uns wirket.
Alſo iſt auch bei allen Wirkungen auſſer uns alles nur Traum,
nur Vermuthung und Name; indeſſen ein wahrer Traum,
ſobald wir oft und beſtaͤndig einerlei Wirkungen mit einerlei
Urſachen verknuͤpft ſehen. Dies iſt der Gang der Philoſo-
phie und die erſte und letzte Philoſophie iſt immer Religion
geweſen. Auch die wildeſten Voͤlker haben ſich darinn geuͤbt:
denn kein Volk der Erde iſt voͤllig ohne ſie, ſo wenig als
ohne menſchliche Vernunftfaͤhigkeit und Geſtalt, ohne Spra-
che und Ehe, ohne einige menſchliche Sitten und Gebraͤuche
gefunden worden. Sie glaubten, wo ſie keinen ſichtbaren
Urheber ſahen, an unſichtbare Urheber und forſchten alſo im-

mer
G g 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0257" n="255[235]"/>
          <p>Endlich i&#x017F;t die <hi rendition="#fr">Religion</hi> die ho&#x0364;ch&#x017F;te Humanita&#x0364;t des<lb/>
Men&#x017F;chen und man verwundre &#x017F;ich nicht, daß ich &#x017F;ie hieher<lb/>
rechne. Wenn des Men&#x017F;chen vorzu&#x0364;glich&#x017F;te Gabe Ver&#x017F;tand<lb/>
i&#x017F;t: &#x017F;o i&#x017F;ts das Ge&#x017F;cha&#x0364;ft des Ver&#x017F;tandes, den Zu&#x017F;ammenhang<lb/>
zwi&#x017F;chen Ur&#x017F;ache und Wirkung aufzu&#x017F;pa&#x0364;hen und den&#x017F;elben<lb/>
wo er ihn nicht gewahr wird, zu ahnen. Der men&#x017F;chliche Ver-<lb/>
&#x017F;tand thut die&#x017F;es in allen Sachen, Handthierungen und Ku&#x0364;n-<lb/>
&#x017F;ten: denn auch, wo er einer <hi rendition="#fr">angenommenen</hi> Fertigkeit folget,<lb/>
mußte ein fru&#x0364;herer Ver&#x017F;tand den Zu&#x017F;ammenhang zwi&#x017F;chen<lb/>
Ur&#x017F;ache und Wirkung ve&#x017F;tge&#x017F;etzt und al&#x017F;o die&#x017F;e Kun&#x017F;t einge-<lb/>
fu&#x0364;hrt haben. Nun &#x017F;ehen wir in den Werken der Natur ei-<lb/>
gentlich keine Ur&#x017F;ache im Jnner&#x017F;ten ein; wir kennen uns &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
nicht, und wi&#x017F;&#x017F;en nicht, wie irgend Etwas in uns wirket.<lb/>
Al&#x017F;o i&#x017F;t auch bei allen Wirkungen au&#x017F;&#x017F;er uns alles nur Traum,<lb/>
nur Vermuthung und Name; inde&#x017F;&#x017F;en ein wahrer Traum,<lb/>
&#x017F;obald wir oft und be&#x017F;ta&#x0364;ndig einerlei Wirkungen mit einerlei<lb/>
Ur&#x017F;achen verknu&#x0364;pft &#x017F;ehen. Dies i&#x017F;t der Gang der Philo&#x017F;o-<lb/>
phie und die er&#x017F;te und letzte Philo&#x017F;ophie i&#x017F;t immer Religion<lb/>
gewe&#x017F;en. Auch die wilde&#x017F;ten Vo&#x0364;lker haben &#x017F;ich darinn geu&#x0364;bt:<lb/>
denn kein Volk der Erde i&#x017F;t vo&#x0364;llig ohne &#x017F;ie, &#x017F;o wenig als<lb/>
ohne men&#x017F;chliche Vernunftfa&#x0364;higkeit und Ge&#x017F;talt, ohne Spra-<lb/>
che und Ehe, ohne einige men&#x017F;chliche Sitten und Gebra&#x0364;uche<lb/>
gefunden worden. Sie glaubten, wo &#x017F;ie keinen &#x017F;ichtbaren<lb/>
Urheber &#x017F;ahen, an un&#x017F;ichtbare Urheber und for&#x017F;chten al&#x017F;o im-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G g 2</fw><fw place="bottom" type="catch">mer</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[255[235]/0257] Endlich iſt die Religion die hoͤchſte Humanitaͤt des Menſchen und man verwundre ſich nicht, daß ich ſie hieher rechne. Wenn des Menſchen vorzuͤglichſte Gabe Verſtand iſt: ſo iſts das Geſchaͤft des Verſtandes, den Zuſammenhang zwiſchen Urſache und Wirkung aufzuſpaͤhen und denſelben wo er ihn nicht gewahr wird, zu ahnen. Der menſchliche Ver- ſtand thut dieſes in allen Sachen, Handthierungen und Kuͤn- ſten: denn auch, wo er einer angenommenen Fertigkeit folget, mußte ein fruͤherer Verſtand den Zuſammenhang zwiſchen Urſache und Wirkung veſtgeſetzt und alſo dieſe Kunſt einge- fuͤhrt haben. Nun ſehen wir in den Werken der Natur ei- gentlich keine Urſache im Jnnerſten ein; wir kennen uns ſelbſt nicht, und wiſſen nicht, wie irgend Etwas in uns wirket. Alſo iſt auch bei allen Wirkungen auſſer uns alles nur Traum, nur Vermuthung und Name; indeſſen ein wahrer Traum, ſobald wir oft und beſtaͤndig einerlei Wirkungen mit einerlei Urſachen verknuͤpft ſehen. Dies iſt der Gang der Philoſo- phie und die erſte und letzte Philoſophie iſt immer Religion geweſen. Auch die wildeſten Voͤlker haben ſich darinn geuͤbt: denn kein Volk der Erde iſt voͤllig ohne ſie, ſo wenig als ohne menſchliche Vernunftfaͤhigkeit und Geſtalt, ohne Spra- che und Ehe, ohne einige menſchliche Sitten und Gebraͤuche gefunden worden. Sie glaubten, wo ſie keinen ſichtbaren Urheber ſahen, an unſichtbare Urheber und forſchten alſo im- mer G g 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/257
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 255[235]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/257>, abgerufen am 25.11.2024.