Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

6. Die aufrechte und schöne Gestalt des Menschen
bildete denselben zur Wohlanständigkeit: denn diese ist
der Wahrheit und Billigkeit schöne Dienerin und Freundin.
Wohlanständigkeit des Körpers ist, daß er stehe wie er soll,
wie ihn Gott gemacht hat; wahre Schönheit ist nichts, als
die angenehme Form der innern Vollkommenheit und Ge-
sundheit. Man denke sich das Gottesgebilde des Menschen
durch Nachläßgkeit und falsche Kunst verunziert: das schöne
Haar ausgerissen oder in Klumpen verwandelt, Nase und
Ohr durchbohrt und herabgezwungen, den Hals und die übri-
gen Theile des Körpers an sich selbst oder durch Kleider ver-
derbet; man denke sich dies und wer wird, selbst wenn die ei-
gensinnigste Mode Gebieterin wäre, hier noch Wohlanstän-
digkeit des geraden und schönen menschlichen Körpers finden?
Mit Sitten und Gebehrden ist es nicht anders; nicht anders
mit Gebräuchen, Künsten und der menschlichen Sprache.
Durch alle diese Stücke gehet also Ein' und dieselbe Huma-
nität
durch, die wenige Völker auf der Erde getroffen und
hundert durch Barbarei und falsche Künste verunziert haben.
Dieser Humanität nachzuforschen ist die ächte menschliche
Philosophie
, die jener Weise vom Himmel rief und die sich
im Umgange, wie in der Politik, in Wissenschaften wie in
allen Künsten offenbaret.


End-

6. Die aufrechte und ſchoͤne Geſtalt des Menſchen
bildete denſelben zur Wohlanſtaͤndigkeit: denn dieſe iſt
der Wahrheit und Billigkeit ſchoͤne Dienerin und Freundin.
Wohlanſtaͤndigkeit des Koͤrpers iſt, daß er ſtehe wie er ſoll,
wie ihn Gott gemacht hat; wahre Schoͤnheit iſt nichts, als
die angenehme Form der innern Vollkommenheit und Ge-
ſundheit. Man denke ſich das Gottesgebilde des Menſchen
durch Nachlaͤßgkeit und falſche Kunſt verunziert: das ſchoͤne
Haar ausgeriſſen oder in Klumpen verwandelt, Naſe und
Ohr durchbohrt und herabgezwungen, den Hals und die uͤbri-
gen Theile des Koͤrpers an ſich ſelbſt oder durch Kleider ver-
derbet; man denke ſich dies und wer wird, ſelbſt wenn die ei-
genſinnigſte Mode Gebieterin waͤre, hier noch Wohlanſtaͤn-
digkeit des geraden und ſchoͤnen menſchlichen Koͤrpers finden?
Mit Sitten und Gebehrden iſt es nicht anders; nicht anders
mit Gebraͤuchen, Kuͤnſten und der menſchlichen Sprache.
Durch alle dieſe Stuͤcke gehet alſo Ein' und dieſelbe Huma-
nitaͤt
durch, die wenige Voͤlker auf der Erde getroffen und
hundert durch Barbarei und falſche Kuͤnſte verunziert haben.
Dieſer Humanitaͤt nachzuforſchen iſt die aͤchte menſchliche
Philoſophie
, die jener Weiſe vom Himmel rief und die ſich
im Umgange, wie in der Politik, in Wiſſenſchaften wie in
allen Kuͤnſten offenbaret.


End-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0256" n="254[234]"/>
          <p>6. Die aufrechte und &#x017F;cho&#x0364;ne Ge&#x017F;talt des Men&#x017F;chen<lb/>
bildete den&#x017F;elben zur <hi rendition="#fr">Wohlan&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit</hi>: denn die&#x017F;e i&#x017F;t<lb/>
der Wahrheit und Billigkeit &#x017F;cho&#x0364;ne Dienerin und Freundin.<lb/>
Wohlan&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit des Ko&#x0364;rpers i&#x017F;t, daß er &#x017F;tehe wie er &#x017F;oll,<lb/>
wie ihn Gott gemacht hat; wahre Scho&#x0364;nheit i&#x017F;t nichts, als<lb/>
die angenehme Form der innern Vollkommenheit und Ge-<lb/>
&#x017F;undheit. Man denke &#x017F;ich das Gottesgebilde des Men&#x017F;chen<lb/>
durch Nachla&#x0364;ßgkeit und fal&#x017F;che Kun&#x017F;t verunziert: das &#x017F;cho&#x0364;ne<lb/>
Haar ausgeri&#x017F;&#x017F;en oder in Klumpen verwandelt, Na&#x017F;e und<lb/>
Ohr durchbohrt und herabgezwungen, den Hals und die u&#x0364;bri-<lb/>
gen Theile des Ko&#x0364;rpers an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t oder durch Kleider ver-<lb/>
derbet; man denke &#x017F;ich dies und wer wird, &#x017F;elb&#x017F;t wenn die ei-<lb/>
gen&#x017F;innig&#x017F;te Mode Gebieterin wa&#x0364;re, hier noch Wohlan&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
digkeit des geraden und &#x017F;cho&#x0364;nen men&#x017F;chlichen Ko&#x0364;rpers finden?<lb/>
Mit Sitten und Gebehrden i&#x017F;t es nicht anders; nicht anders<lb/>
mit Gebra&#x0364;uchen, Ku&#x0364;n&#x017F;ten und der men&#x017F;chlichen Sprache.<lb/>
Durch alle die&#x017F;e Stu&#x0364;cke gehet al&#x017F;o Ein' und die&#x017F;elbe <hi rendition="#fr">Huma-<lb/>
nita&#x0364;t</hi> durch, die wenige Vo&#x0364;lker auf der Erde getroffen und<lb/>
hundert durch Barbarei und fal&#x017F;che Ku&#x0364;n&#x017F;te verunziert haben.<lb/>
Die&#x017F;er Humanita&#x0364;t nachzufor&#x017F;chen i&#x017F;t die a&#x0364;chte <hi rendition="#fr">men&#x017F;chliche<lb/>
Philo&#x017F;ophie</hi>, die jener Wei&#x017F;e vom Himmel rief und die &#x017F;ich<lb/>
im Umgange, wie in der Politik, in Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften wie in<lb/>
allen Ku&#x0364;n&#x017F;ten offenbaret.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">End-</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[254[234]/0256] 6. Die aufrechte und ſchoͤne Geſtalt des Menſchen bildete denſelben zur Wohlanſtaͤndigkeit: denn dieſe iſt der Wahrheit und Billigkeit ſchoͤne Dienerin und Freundin. Wohlanſtaͤndigkeit des Koͤrpers iſt, daß er ſtehe wie er ſoll, wie ihn Gott gemacht hat; wahre Schoͤnheit iſt nichts, als die angenehme Form der innern Vollkommenheit und Ge- ſundheit. Man denke ſich das Gottesgebilde des Menſchen durch Nachlaͤßgkeit und falſche Kunſt verunziert: das ſchoͤne Haar ausgeriſſen oder in Klumpen verwandelt, Naſe und Ohr durchbohrt und herabgezwungen, den Hals und die uͤbri- gen Theile des Koͤrpers an ſich ſelbſt oder durch Kleider ver- derbet; man denke ſich dies und wer wird, ſelbſt wenn die ei- genſinnigſte Mode Gebieterin waͤre, hier noch Wohlanſtaͤn- digkeit des geraden und ſchoͤnen menſchlichen Koͤrpers finden? Mit Sitten und Gebehrden iſt es nicht anders; nicht anders mit Gebraͤuchen, Kuͤnſten und der menſchlichen Sprache. Durch alle dieſe Stuͤcke gehet alſo Ein' und dieſelbe Huma- nitaͤt durch, die wenige Voͤlker auf der Erde getroffen und hundert durch Barbarei und falſche Kuͤnſte verunziert haben. Dieſer Humanitaͤt nachzuforſchen iſt die aͤchte menſchliche Philoſophie, die jener Weiſe vom Himmel rief und die ſich im Umgange, wie in der Politik, in Wiſſenſchaften wie in allen Kuͤnſten offenbaret. End-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/256
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 254[234]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/256>, abgerufen am 25.11.2024.