wahre Mensch ist frei und gehorcht aus Güte und Liebe: denn alle Gesetze der Natur, wo er sie einsiehet, sind gut und wo er sie nicht einsiehet, lernt er ihnen mit kindlicher Einfalt folgen. Gehest du nicht willig, sagten die Weisen, so mußt du gehen: die Regel der Natur ändert sich deinetwegen nicht; je mehr du aber die Vollkommenheit, Güte und Schönheit derselben erkennest, desto mehr wird auch diese lebendige Form dich zum Nachbilde der Gottheit in deinem irrdischen Le- ben bilden. Wahre Religion also ist ein kindlicher Gottes- dienst, eine Nachahmung des Höchsten und Schönsten im menschlichen Bilde, mithin die innigste Zufriedenheit, die wirk- samste Güte und Menschenliebe.
Und so siehet man auch, warum in allen Religionen der Erde mehr oder minder Menschenähnlichkeit Gottes habe statt finden müssen, entweder daß man den Menschen zu Gott erhob oder den Vater der Welt zum Menschengebilde hinab- zog. Eine höhere Gestalt als die unsre kennen wir nicht; und was den Menschen rühren und menschlich machen soll, muß menschlich gedacht und empfunden seyn. Eine sinnliche Nation veredelte also die Menschengestalt zur göttlichen Schönheit; andre, die geistiger dachten, brachten Vollkom- menheiten des Unsichtbaren in Symbole fürs menschliche Auge. Selbst da die Gottheit sich uns offenbaren wollte,
sprach
wahre Menſch iſt frei und gehorcht aus Guͤte und Liebe: denn alle Geſetze der Natur, wo er ſie einſiehet, ſind gut und wo er ſie nicht einſiehet, lernt er ihnen mit kindlicher Einfalt folgen. Geheſt du nicht willig, ſagten die Weiſen, ſo mußt du gehen: die Regel der Natur aͤndert ſich deinetwegen nicht; je mehr du aber die Vollkommenheit, Guͤte und Schoͤnheit derſelben erkenneſt, deſto mehr wird auch dieſe lebendige Form dich zum Nachbilde der Gottheit in deinem irrdiſchen Le- ben bilden. Wahre Religion alſo iſt ein kindlicher Gottes- dienſt, eine Nachahmung des Hoͤchſten und Schoͤnſten im menſchlichen Bilde, mithin die innigſte Zufriedenheit, die wirk- ſamſte Guͤte und Menſchenliebe.
Und ſo ſiehet man auch, warum in allen Religionen der Erde mehr oder minder Menſchenaͤhnlichkeit Gottes habe ſtatt finden muͤſſen, entweder daß man den Menſchen zu Gott erhob oder den Vater der Welt zum Menſchengebilde hinab- zog. Eine hoͤhere Geſtalt als die unſre kennen wir nicht; und was den Menſchen ruͤhren und menſchlich machen ſoll, muß menſchlich gedacht und empfunden ſeyn. Eine ſinnliche Nation veredelte alſo die Menſchengeſtalt zur goͤttlichen Schoͤnheit; andre, die geiſtiger dachten, brachten Vollkom- menheiten des Unſichtbaren in Symbole fuͤrs menſchliche Auge. Selbſt da die Gottheit ſich uns offenbaren wollte,
ſprach
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[258[238]/0260]
wahre Menſch iſt frei und gehorcht aus Guͤte und Liebe:
denn alle Geſetze der Natur, wo er ſie einſiehet, ſind gut und
wo er ſie nicht einſiehet, lernt er ihnen mit kindlicher Einfalt
folgen. Geheſt du nicht willig, ſagten die Weiſen, ſo mußt
du gehen: die Regel der Natur aͤndert ſich deinetwegen nicht;
je mehr du aber die Vollkommenheit, Guͤte und Schoͤnheit
derſelben erkenneſt, deſto mehr wird auch dieſe lebendige Form
dich zum Nachbilde der Gottheit in deinem irrdiſchen Le-
ben bilden. Wahre Religion alſo iſt ein kindlicher Gottes-
dienſt, eine Nachahmung des Hoͤchſten und Schoͤnſten im
menſchlichen Bilde, mithin die innigſte Zufriedenheit, die wirk-
ſamſte Guͤte und Menſchenliebe.
Und ſo ſiehet man auch, warum in allen Religionen
der Erde mehr oder minder Menſchenaͤhnlichkeit Gottes habe
ſtatt finden muͤſſen, entweder daß man den Menſchen zu Gott
erhob oder den Vater der Welt zum Menſchengebilde hinab-
zog. Eine hoͤhere Geſtalt als die unſre kennen wir nicht;
und was den Menſchen ruͤhren und menſchlich machen ſoll,
muß menſchlich gedacht und empfunden ſeyn. Eine ſinnliche
Nation veredelte alſo die Menſchengeſtalt zur goͤttlichen
Schoͤnheit; andre, die geiſtiger dachten, brachten Vollkom-
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Auge. Selbſt da die Gottheit ſich uns offenbaren wollte,
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 258[238]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/260>, abgerufen am 25.11.2024.
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