Frucht Gestalt gewinnt und sich diese vollendet! Die orga- nische Kraft muß zerrütten, indem sie ordnet: sie zieht Theile zusammen und treibt sie auseinander; ja es scheint, als ob mehrere Kräfte im Wettstreit wären und zuerst eine Mißge- burt bilden wollten, bis sie in ihr Gleichgewicht treten und das Geschöpf das wird, was er seiner Gattung nach seyn soll. Siehet man diese Wandlungen, diese lebendigen Wir- kungen sowohl im Ei des Vogels als im Mutterleibe des Thiers das lebendige gebähret: so, dünkt mich, spricht man uneigentlich, wenn man von Keimen, die nur entwickelt würden, oder von einer Epigenesis redet, nach der die Glieder von außen zuwüchsen. Bildung (genesis) ists, eine Wirkung innerer Kräfte, denen die Natur eine Masse vorbereitet hatte, die sie sich zubilden, in der sie sich sichtbar machen sollten. Dies ist die Erfahrung der Natur: dies be- stätigen die Perioden der Bildung in den verschiedenen Gat- tungen von mehr oder minder organischer Vielartigkeit und Fülle von Lebenskräften: nur hieraus lassen sich die Mißbil- dungen der Geschöpfe durch Krankheit, Zufall oder durch die Vermischung verschiedner Gattungen erklären und es ist die- ser Weg der Einzige, den uns in allen ihren Werken die Kraft- und Lebenreiche Natur durch eine fortgehende Analo- gie gleichsam aufdringt.
Man
Frucht Geſtalt gewinnt und ſich dieſe vollendet! Die orga- niſche Kraft muß zerruͤtten, indem ſie ordnet: ſie zieht Theile zuſammen und treibt ſie auseinander; ja es ſcheint, als ob mehrere Kraͤfte im Wettſtreit waͤren und zuerſt eine Mißge- burt bilden wollten, bis ſie in ihr Gleichgewicht treten und das Geſchoͤpf das wird, was er ſeiner Gattung nach ſeyn ſoll. Siehet man dieſe Wandlungen, dieſe lebendigen Wir- kungen ſowohl im Ei des Vogels als im Mutterleibe des Thiers das lebendige gebaͤhret: ſo, duͤnkt mich, ſpricht man uneigentlich, wenn man von Keimen, die nur entwickelt wuͤrden, oder von einer Epigeneſis redet, nach der die Glieder von außen zuwuͤchſen. Bildung (geneſis) iſts, eine Wirkung innerer Kraͤfte, denen die Natur eine Maſſe vorbereitet hatte, die ſie ſich zubilden, in der ſie ſich ſichtbar machen ſollten. Dies iſt die Erfahrung der Natur: dies be- ſtaͤtigen die Perioden der Bildung in den verſchiedenen Gat- tungen von mehr oder minder organiſcher Vielartigkeit und Fuͤlle von Lebenskraͤften: nur hieraus laſſen ſich die Mißbil- dungen der Geſchoͤpfe durch Krankheit, Zufall oder durch die Vermiſchung verſchiedner Gattungen erklaͤren und es iſt die- ſer Weg der Einzige, den uns in allen ihren Werken die Kraft- und Lebenreiche Natur durch eine fortgehende Analo- gie gleichſam aufdringt.
Man
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[275[255]/0277]
Frucht Geſtalt gewinnt und ſich dieſe vollendet! Die orga-
niſche Kraft muß zerruͤtten, indem ſie ordnet: ſie zieht Theile
zuſammen und treibt ſie auseinander; ja es ſcheint, als ob
mehrere Kraͤfte im Wettſtreit waͤren und zuerſt eine Mißge-
burt bilden wollten, bis ſie in ihr Gleichgewicht treten und
das Geſchoͤpf das wird, was er ſeiner Gattung nach ſeyn
ſoll. Siehet man dieſe Wandlungen, dieſe lebendigen Wir-
kungen ſowohl im Ei des Vogels als im Mutterleibe des
Thiers das lebendige gebaͤhret: ſo, duͤnkt mich, ſpricht man
uneigentlich, wenn man von Keimen, die nur entwickelt
wuͤrden, oder von einer Epigeneſis redet, nach der die
Glieder von außen zuwuͤchſen. Bildung (geneſis) iſts,
eine Wirkung innerer Kraͤfte, denen die Natur eine Maſſe
vorbereitet hatte, die ſie ſich zubilden, in der ſie ſich ſichtbar
machen ſollten. Dies iſt die Erfahrung der Natur: dies be-
ſtaͤtigen die Perioden der Bildung in den verſchiedenen Gat-
tungen von mehr oder minder organiſcher Vielartigkeit und
Fuͤlle von Lebenskraͤften: nur hieraus laſſen ſich die Mißbil-
dungen der Geſchoͤpfe durch Krankheit, Zufall oder durch die
Vermiſchung verſchiedner Gattungen erklaͤren und es iſt die-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 275[255]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/277>, abgerufen am 27.11.2024.
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