Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

mal die Nerven beider Augen und bei keinem Geschöpf die
Nerven aller Sinne so zusammen, daß Ein sichtbarer Punkt
sie vereine. Noch weniger gilt dieses von den Nerven des
gesammten Körpers, in dessen kleinstem Gliede sich doch die
Seele gegenwärtig fühlt und in ihm wirket. Also ists eine
schwache unphysiologische Vorstellung, sich das Gehirns als
einen Selbstdenker, den Nervensaft als einen Selbstempfin
der zu denken; vielmehr sind es, allen Erfahrungen zufolge,
eigne psychologische Gesetze, nach denen die Seele ihre
Verrichtungen vornimmt und ihre Begriffe verbindet. Daß
es jedesmal ihrem Organ gemäß und demselben harmonisch
geschehe, daß wenn das Werkzeug nichts taugt, auch die Künst-
lerin nichts thun könne u. f.; das alles leidet keinen Zwei-
fel, ändert aber auch nichts im Begrif der Sache. Die
Art, mit dem die Seele wirkt, das Wesen ihrer Begriffe
kommt hier in Betrachtung. Und da ists

1. unläugbar, daß der Gedanke, ja die erste Wahr-
nehmung, damit sich die Seele einen äußern Gegenstand vor-
stellt, ganz ein andres Ding sei, als was ihr der Sinn
zuführet
. Wir nennen es ein Bild; es ist aber nicht das
Bild d. i. der lichte Punkt, der aufs Auge gemahlt wird und
der das Gehirn gar nicht erreichet; das Bild der Seele ist
ein geistiges, von ihr selbst bei Veranlassung der Sinne ge-

schaf-
L l 3

mal die Nerven beider Augen und bei keinem Geſchoͤpf die
Nerven aller Sinne ſo zuſammen, daß Ein ſichtbarer Punkt
ſie vereine. Noch weniger gilt dieſes von den Nerven des
geſammten Koͤrpers, in deſſen kleinſtem Gliede ſich doch die
Seele gegenwaͤrtig fuͤhlt und in ihm wirket. Alſo iſts eine
ſchwache unphyſiologiſche Vorſtellung, ſich das Gehirns als
einen Selbſtdenker, den Nervenſaft als einen Selbſtempfin
der zu denken; vielmehr ſind es, allen Erfahrungen zufolge,
eigne pſychologiſche Geſetze, nach denen die Seele ihre
Verrichtungen vornimmt und ihre Begriffe verbindet. Daß
es jedesmal ihrem Organ gemaͤß und demſelben harmoniſch
geſchehe, daß wenn das Werkzeug nichts taugt, auch die Kuͤnſt-
lerin nichts thun koͤnne u. f.; das alles leidet keinen Zwei-
fel, aͤndert aber auch nichts im Begrif der Sache. Die
Art, mit dem die Seele wirkt, das Weſen ihrer Begriffe
kommt hier in Betrachtung. Und da iſts

1. unlaͤugbar, daß der Gedanke, ja die erſte Wahr-
nehmung, damit ſich die Seele einen aͤußern Gegenſtand vor-
ſtellt, ganz ein andres Ding ſei, als was ihr der Sinn
zufuͤhret
. Wir nennen es ein Bild; es iſt aber nicht das
Bild d. i. der lichte Punkt, der aufs Auge gemahlt wird und
der das Gehirn gar nicht erreichet; das Bild der Seele iſt
ein geiſtiges, von ihr ſelbſt bei Veranlaſſung der Sinne ge-

ſchaf-
L l 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0291" n="289[269]"/>
          <p>mal die Nerven beider Augen und bei keinem Ge&#x017F;cho&#x0364;pf die<lb/>
Nerven aller Sinne &#x017F;o zu&#x017F;ammen, daß Ein &#x017F;ichtbarer Punkt<lb/>
&#x017F;ie vereine. Noch weniger gilt die&#x017F;es von den Nerven des<lb/>
ge&#x017F;ammten Ko&#x0364;rpers, in de&#x017F;&#x017F;en klein&#x017F;tem Gliede &#x017F;ich doch die<lb/>
Seele gegenwa&#x0364;rtig fu&#x0364;hlt und in ihm wirket. Al&#x017F;o i&#x017F;ts eine<lb/>
&#x017F;chwache unphy&#x017F;iologi&#x017F;che Vor&#x017F;tellung, &#x017F;ich das Gehirns als<lb/>
einen Selb&#x017F;tdenker, den Nerven&#x017F;aft als einen Selb&#x017F;tempfin<lb/>
der zu denken; vielmehr &#x017F;ind es, allen Erfahrungen zufolge,<lb/><hi rendition="#fr">eigne p&#x017F;ychologi&#x017F;che Ge&#x017F;etze</hi>, nach denen die Seele ihre<lb/>
Verrichtungen vornimmt und ihre Begriffe verbindet. Daß<lb/>
es jedesmal ihrem Organ gema&#x0364;ß und dem&#x017F;elben harmoni&#x017F;ch<lb/>
ge&#x017F;chehe, daß wenn das Werkzeug nichts taugt, auch die Ku&#x0364;n&#x017F;t-<lb/>
lerin nichts thun ko&#x0364;nne u. f.; das alles leidet keinen Zwei-<lb/>
fel, a&#x0364;ndert aber auch nichts im Begrif der Sache. Die<lb/>
Art, mit dem die Seele wirkt, das <hi rendition="#fr">We&#x017F;en ihrer Begriffe</hi><lb/>
kommt hier in Betrachtung. Und da i&#x017F;ts</p><lb/>
          <p>1. unla&#x0364;ugbar, daß <hi rendition="#fr">der Gedanke</hi>, ja die er&#x017F;te Wahr-<lb/>
nehmung, damit &#x017F;ich die Seele einen a&#x0364;ußern Gegen&#x017F;tand vor-<lb/>
&#x017F;tellt, ganz <hi rendition="#fr">ein andres Ding &#x017F;ei, als was ihr der Sinn<lb/>
zufu&#x0364;hret</hi>. Wir nennen es ein Bild; es i&#x017F;t aber nicht das<lb/>
Bild d. i. der lichte Punkt, der aufs Auge gemahlt wird und<lb/>
der das Gehirn gar nicht erreichet; das Bild der Seele i&#x017F;t<lb/>
ein gei&#x017F;tiges, von ihr &#x017F;elb&#x017F;t bei Veranla&#x017F;&#x017F;ung der Sinne ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L l 3</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chaf-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[289[269]/0291] mal die Nerven beider Augen und bei keinem Geſchoͤpf die Nerven aller Sinne ſo zuſammen, daß Ein ſichtbarer Punkt ſie vereine. Noch weniger gilt dieſes von den Nerven des geſammten Koͤrpers, in deſſen kleinſtem Gliede ſich doch die Seele gegenwaͤrtig fuͤhlt und in ihm wirket. Alſo iſts eine ſchwache unphyſiologiſche Vorſtellung, ſich das Gehirns als einen Selbſtdenker, den Nervenſaft als einen Selbſtempfin der zu denken; vielmehr ſind es, allen Erfahrungen zufolge, eigne pſychologiſche Geſetze, nach denen die Seele ihre Verrichtungen vornimmt und ihre Begriffe verbindet. Daß es jedesmal ihrem Organ gemaͤß und demſelben harmoniſch geſchehe, daß wenn das Werkzeug nichts taugt, auch die Kuͤnſt- lerin nichts thun koͤnne u. f.; das alles leidet keinen Zwei- fel, aͤndert aber auch nichts im Begrif der Sache. Die Art, mit dem die Seele wirkt, das Weſen ihrer Begriffe kommt hier in Betrachtung. Und da iſts 1. unlaͤugbar, daß der Gedanke, ja die erſte Wahr- nehmung, damit ſich die Seele einen aͤußern Gegenſtand vor- ſtellt, ganz ein andres Ding ſei, als was ihr der Sinn zufuͤhret. Wir nennen es ein Bild; es iſt aber nicht das Bild d. i. der lichte Punkt, der aufs Auge gemahlt wird und der das Gehirn gar nicht erreichet; das Bild der Seele iſt ein geiſtiges, von ihr ſelbſt bei Veranlaſſung der Sinne ge- ſchaf- L l 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/291
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 289[269]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/291>, abgerufen am 28.11.2024.