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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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synkrasie Erinnerungen aufruft und nach innerer Liebe oder
Abneigung, nicht nach einer äußern Mechanik, Jdeen bin-
det. Jch wünschte, daß hierüber aufrichtige Menschen das
Protocoll ihres Herzens und scharfsinnige Beobachter, inson-
derheit Aerzte, die Eigenheiten bekannt machten, die sie an
ihren Kranken bemerkten; und ich bin überzeugt, es wären
lauter Belege von Wirkungen eines zwar organischen, aber
dennoch eigenmächtigen, nach Gesetzen geistiger Verbindung
wirkenden Wesens.

2. Die künstliche Bildung unsrer Jdeen von
Kindheit
auf erweiset dasselbe und der langsame Gang,
auf welchem die Seele nicht nur spät ihrer selbst bewußt wird,
sondern auch mit Mühe ihre Sinnen brauchen lernet. Mehr
als Ein Psycholog hat die Kunststücke bemerkt, mit der ein
Kind von Farbe, Gestalt, Größe, Entfernung Begrif er-
hält und durch die es sehen lernet. Der körperliche Sinn
lernt nichts: denn das Bild mahlet sich den ersten Tag aufs
Auge, wie es sich den letzten des Lebens mahlen wird; aber
die Seele durch den Sinn lernt messen, vergleichen, geistig
empfinden. Hiezu hilft ihr das Ohr und die Sprache ist
doch gewiß ein geistiges, nicht körperliches Mittel der Jdeen-
bildung. Nur ein Sinnloser kann Schall und Wort für ei-
nerlei nehmen; und wie diese beide verschieden sind, ists

Körper

ſynkraſie Erinnerungen aufruft und nach innerer Liebe oder
Abneigung, nicht nach einer aͤußern Mechanik, Jdeen bin-
det. Jch wuͤnſchte, daß hieruͤber aufrichtige Menſchen das
Protocoll ihres Herzens und ſcharfſinnige Beobachter, inſon-
derheit Aerzte, die Eigenheiten bekannt machten, die ſie an
ihren Kranken bemerkten; und ich bin uͤberzeugt, es waͤren
lauter Belege von Wirkungen eines zwar organiſchen, aber
dennoch eigenmaͤchtigen, nach Geſetzen geiſtiger Verbindung
wirkenden Weſens.

2. Die kuͤnſtliche Bildung unſrer Jdeen von
Kindheit
auf erweiſet daſſelbe und der langſame Gang,
auf welchem die Seele nicht nur ſpaͤt ihrer ſelbſt bewußt wird,
ſondern auch mit Muͤhe ihre Sinnen brauchen lernet. Mehr
als Ein Pſycholog hat die Kunſtſtuͤcke bemerkt, mit der ein
Kind von Farbe, Geſtalt, Groͤße, Entfernung Begrif er-
haͤlt und durch die es ſehen lernet. Der koͤrperliche Sinn
lernt nichts: denn das Bild mahlet ſich den erſten Tag aufs
Auge, wie es ſich den letzten des Lebens mahlen wird; aber
die Seele durch den Sinn lernt meſſen, vergleichen, geiſtig
empfinden. Hiezu hilft ihr das Ohr und die Sprache iſt
doch gewiß ein geiſtiges, nicht koͤrperliches Mittel der Jdeen-
bildung. Nur ein Sinnloſer kann Schall und Wort fuͤr ei-
nerlei nehmen; und wie dieſe beide verſchieden ſind, iſts

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[291[271]/0293] ſynkraſie Erinnerungen aufruft und nach innerer Liebe oder Abneigung, nicht nach einer aͤußern Mechanik, Jdeen bin- det. Jch wuͤnſchte, daß hieruͤber aufrichtige Menſchen das Protocoll ihres Herzens und ſcharfſinnige Beobachter, inſon- derheit Aerzte, die Eigenheiten bekannt machten, die ſie an ihren Kranken bemerkten; und ich bin uͤberzeugt, es waͤren lauter Belege von Wirkungen eines zwar organiſchen, aber dennoch eigenmaͤchtigen, nach Geſetzen geiſtiger Verbindung wirkenden Weſens. 2. Die kuͤnſtliche Bildung unſrer Jdeen von Kindheit auf erweiſet daſſelbe und der langſame Gang, auf welchem die Seele nicht nur ſpaͤt ihrer ſelbſt bewußt wird, ſondern auch mit Muͤhe ihre Sinnen brauchen lernet. Mehr als Ein Pſycholog hat die Kunſtſtuͤcke bemerkt, mit der ein Kind von Farbe, Geſtalt, Groͤße, Entfernung Begrif er- haͤlt und durch die es ſehen lernet. Der koͤrperliche Sinn lernt nichts: denn das Bild mahlet ſich den erſten Tag aufs Auge, wie es ſich den letzten des Lebens mahlen wird; aber die Seele durch den Sinn lernt meſſen, vergleichen, geiſtig empfinden. Hiezu hilft ihr das Ohr und die Sprache iſt doch gewiß ein geiſtiges, nicht koͤrperliches Mittel der Jdeen- bildung. Nur ein Sinnloſer kann Schall und Wort fuͤr ei- nerlei nehmen; und wie dieſe beide verſchieden ſind, iſts Koͤrper

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 291[271]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/293>, abgerufen am 10.05.2024.