Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

1. Der sonderbare Widerspruch klar, in dem sich
der Mensch zeiget. Als Thier dienet er der Erde und hangt
an ihr als seiner Wohnstäte; als Mensch hat er den Samen
der Unsterblichkeit in sich, der einen andern Pflanzgarten fo-
dert. Als Thier kann er seine Bedürfnisse befriedigen und
Menschen, die mit ihnen zufrieden sind, befinden sich sehr
wohl hienieden. Sobald er irgend eine edlere Anlage ver-
folgt, findet er überall Unvollkommenheiten und Stückwerk;
das Edelste ist auf der Erde nie ausgeführt worden, das
Reinste [h]at selten Bestand und Dauer gewonnen: für die
Kräfte unsers Geistes und Herzens ist dieser Schauplatz im-
mer nur eine Uebungs- und Prüfungsstäte. Die Geschichte
unsers Geschlechts mit ihren Versuchen, Schicksalen, Unter-
nehmungen und Revolutionen beweiset dies sattsam. Hie
und da kam ein Weiser, ein Guter und streuete Gedanken,
Rathschläge und Thaten in die Fluth der Zeiten; einige Wel-
len kreiseten sich umher, aber der Strom riß sie hin und nahm
ihre Spur weg; das Kleinod ihrer edlen Absichten sank zu
Grunde. Narren herrschten über die Rathschläge der Wei-
sen und Verschwender erbten die Schätze des Geistes ihrer
sammlenden Eltern. So wenig das Leben des Menschen
hienieden auf eine Ewigkeit berechnet ist: so wenig ist die
runde, sich immer bewegende Erde eine Werkstäte bleiben-
der Kunstwerke, ein Garten ewiger Pflanzen, ein Lustschloß

ewi-
O o

1. Der ſonderbare Widerſpruch klar, in dem ſich
der Menſch zeiget. Als Thier dienet er der Erde und hangt
an ihr als ſeiner Wohnſtaͤte; als Menſch hat er den Samen
der Unſterblichkeit in ſich, der einen andern Pflanzgarten fo-
dert. Als Thier kann er ſeine Beduͤrfniſſe befriedigen und
Menſchen, die mit ihnen zufrieden ſind, befinden ſich ſehr
wohl hienieden. Sobald er irgend eine edlere Anlage ver-
folgt, findet er uͤberall Unvollkommenheiten und Stuͤckwerk;
das Edelſte iſt auf der Erde nie ausgefuͤhrt worden, das
Reinſte [h]at ſelten Beſtand und Dauer gewonnen: fuͤr die
Kraͤfte unſers Geiſtes und Herzens iſt dieſer Schauplatz im-
mer nur eine Uebungs- und Pruͤfungsſtaͤte. Die Geſchichte
unſers Geſchlechts mit ihren Verſuchen, Schickſalen, Unter-
nehmungen und Revolutionen beweiſet dies ſattſam. Hie
und da kam ein Weiſer, ein Guter und ſtreuete Gedanken,
Rathſchlaͤge und Thaten in die Fluth der Zeiten; einige Wel-
len kreiſeten ſich umher, aber der Strom riß ſie hin und nahm
ihre Spur weg; das Kleinod ihrer edlen Abſichten ſank zu
Grunde. Narren herrſchten uͤber die Rathſchlaͤge der Wei-
ſen und Verſchwender erbten die Schaͤtze des Geiſtes ihrer
ſammlenden Eltern. So wenig das Leben des Menſchen
hienieden auf eine Ewigkeit berechnet iſt: ſo wenig iſt die
runde, ſich immer bewegende Erde eine Werkſtaͤte bleiben-
der Kunſtwerke, ein Garten ewiger Pflanzen, ein Luſtſchloß

ewi-
O o
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0311" n="309[289]"/>
          <p>1. Der &#x017F;onderbare <hi rendition="#fr">Wider&#x017F;pruch</hi> klar, in dem &#x017F;ich<lb/>
der Men&#x017F;ch zeiget. Als Thier dienet er der Erde und hangt<lb/>
an ihr als &#x017F;einer Wohn&#x017F;ta&#x0364;te; als Men&#x017F;ch hat er den Samen<lb/>
der Un&#x017F;terblichkeit in &#x017F;ich, der einen andern Pflanzgarten fo-<lb/>
dert. Als Thier kann er &#x017F;eine Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e befriedigen und<lb/>
Men&#x017F;chen, die mit ihnen zufrieden &#x017F;ind, befinden &#x017F;ich &#x017F;ehr<lb/>
wohl hienieden. Sobald er irgend eine edlere Anlage ver-<lb/>
folgt, findet er u&#x0364;berall Unvollkommenheiten und Stu&#x0364;ckwerk;<lb/>
das Edel&#x017F;te i&#x017F;t auf der Erde nie ausgefu&#x0364;hrt worden, das<lb/>
Rein&#x017F;te <supplied>h</supplied>at &#x017F;elten Be&#x017F;tand und Dauer gewonnen: fu&#x0364;r die<lb/>
Kra&#x0364;fte un&#x017F;ers Gei&#x017F;tes und Herzens i&#x017F;t die&#x017F;er Schauplatz im-<lb/>
mer nur eine Uebungs- und Pru&#x0364;fungs&#x017F;ta&#x0364;te. Die Ge&#x017F;chichte<lb/>
un&#x017F;ers Ge&#x017F;chlechts mit ihren Ver&#x017F;uchen, Schick&#x017F;alen, Unter-<lb/>
nehmungen und Revolutionen bewei&#x017F;et dies &#x017F;att&#x017F;am. Hie<lb/>
und da kam ein Wei&#x017F;er, ein Guter und &#x017F;treuete Gedanken,<lb/>
Rath&#x017F;chla&#x0364;ge und Thaten in die Fluth der Zeiten; einige Wel-<lb/>
len krei&#x017F;eten &#x017F;ich umher, aber der Strom riß &#x017F;ie hin und nahm<lb/>
ihre Spur weg; das Kleinod ihrer edlen Ab&#x017F;ichten &#x017F;ank zu<lb/>
Grunde. Narren herr&#x017F;chten u&#x0364;ber die Rath&#x017F;chla&#x0364;ge der Wei-<lb/>
&#x017F;en und Ver&#x017F;chwender erbten die Scha&#x0364;tze des Gei&#x017F;tes ihrer<lb/>
&#x017F;ammlenden Eltern. So wenig das Leben des Men&#x017F;chen<lb/>
hienieden auf eine Ewigkeit berechnet i&#x017F;t: &#x017F;o wenig i&#x017F;t die<lb/>
runde, &#x017F;ich immer bewegende Erde eine Werk&#x017F;ta&#x0364;te bleiben-<lb/>
der Kun&#x017F;twerke, ein Garten ewiger Pflanzen, ein Lu&#x017F;t&#x017F;chloß<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O o</fw><fw place="bottom" type="catch">ewi-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[309[289]/0311] 1. Der ſonderbare Widerſpruch klar, in dem ſich der Menſch zeiget. Als Thier dienet er der Erde und hangt an ihr als ſeiner Wohnſtaͤte; als Menſch hat er den Samen der Unſterblichkeit in ſich, der einen andern Pflanzgarten fo- dert. Als Thier kann er ſeine Beduͤrfniſſe befriedigen und Menſchen, die mit ihnen zufrieden ſind, befinden ſich ſehr wohl hienieden. Sobald er irgend eine edlere Anlage ver- folgt, findet er uͤberall Unvollkommenheiten und Stuͤckwerk; das Edelſte iſt auf der Erde nie ausgefuͤhrt worden, das Reinſte hat ſelten Beſtand und Dauer gewonnen: fuͤr die Kraͤfte unſers Geiſtes und Herzens iſt dieſer Schauplatz im- mer nur eine Uebungs- und Pruͤfungsſtaͤte. Die Geſchichte unſers Geſchlechts mit ihren Verſuchen, Schickſalen, Unter- nehmungen und Revolutionen beweiſet dies ſattſam. Hie und da kam ein Weiſer, ein Guter und ſtreuete Gedanken, Rathſchlaͤge und Thaten in die Fluth der Zeiten; einige Wel- len kreiſeten ſich umher, aber der Strom riß ſie hin und nahm ihre Spur weg; das Kleinod ihrer edlen Abſichten ſank zu Grunde. Narren herrſchten uͤber die Rathſchlaͤge der Wei- ſen und Verſchwender erbten die Schaͤtze des Geiſtes ihrer ſammlenden Eltern. So wenig das Leben des Menſchen hienieden auf eine Ewigkeit berechnet iſt: ſo wenig iſt die runde, ſich immer bewegende Erde eine Werkſtaͤte bleiben- der Kunſtwerke, ein Garten ewiger Pflanzen, ein Luſtſchloß ewi- O o

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/311
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 309[289]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/311>, abgerufen am 28.04.2024.