Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

auch die Bildung des vesten Landes erkläre. Ob sich nun
ein solches physisches Naturgesetz finden liesse? Ob sie als
Stralen aus Einem Punkt? oder als Aeste aus Einem
Stamm? oder als winklichte Hufeisen dastehn? und was sie,
da sie als nackte Gebürge, als ein Gerippe der Erde hervor-
ragten, für eine Bildungsregel hatten? Dies ist die wichti-
ge bisher noch unaufgelösete Frage, der ich eine gnugthuende
Auflösung wünschte. Wohlverstanden nehmlich, daß ich hier
nicht von herangeschwemmten Bergen, sondern vom ersten
Grund- und Urgebürge der Erde rede.

Gnug: wie sich die Gebürge zogen, streckten sich auch
die Länder. Asien ward zuerst bewohnbar, weil es die höch-
sten und breitesten Bergketten und auf seinem Rücken eine
Ebne besaß, die nie das Meer erreicht hat. Hier war also
nach aller Wahrscheinlichkeit irgend in einem glückse-
ligen Thal am Fuß und im Busen der Gebürge der erste
erlesene Wohnsitz der Menschen. Von da breiteten sie sich
südlich in die schönen und fruchtbaren Ebnen längst den
Strömen hinab; nordwärts bildeten sich härtere Stämme,
die zwischen Flüssen und Bergen umherzogen und sich mit
der Zeit westwärts bis nach Europa drängten. Ein Zug
folgte dem andern: ein Volk drängte das andre; bis sie
abermals an ein Meer, die Ostsee, kamen, zum Theil herü-


ber

auch die Bildung des veſten Landes erklaͤre. Ob ſich nun
ein ſolches phyſiſches Naturgeſetz finden lieſſe? Ob ſie als
Stralen aus Einem Punkt? oder als Aeſte aus Einem
Stamm? oder als winklichte Hufeiſen daſtehn? und was ſie,
da ſie als nackte Gebuͤrge, als ein Gerippe der Erde hervor-
ragten, fuͤr eine Bildungsregel hatten? Dies iſt die wichti-
ge bisher noch unaufgeloͤſete Frage, der ich eine gnugthuende
Aufloͤſung wuͤnſchte. Wohlverſtanden nehmlich, daß ich hier
nicht von herangeſchwemmten Bergen, ſondern vom erſten
Grund- und Urgebuͤrge der Erde rede.

Gnug: wie ſich die Gebuͤrge zogen, ſtreckten ſich auch
die Laͤnder. Aſien ward zuerſt bewohnbar, weil es die hoͤch-
ſten und breiteſten Bergketten und auf ſeinem Ruͤcken eine
Ebne beſaß, die nie das Meer erreicht hat. Hier war alſo
nach aller Wahrſcheinlichkeit irgend in einem gluͤckſe-
ligen Thal am Fuß und im Buſen der Gebuͤrge der erſte
erleſene Wohnſitz der Menſchen. Von da breiteten ſie ſich
ſuͤdlich in die ſchoͤnen und fruchtbaren Ebnen laͤngſt den
Stroͤmen hinab; nordwaͤrts bildeten ſich haͤrtere Staͤmme,
die zwiſchen Fluͤſſen und Bergen umherzogen und ſich mit
der Zeit weſtwaͤrts bis nach Europa draͤngten. Ein Zug
folgte dem andern: ein Volk draͤngte das andre; bis ſie
abermals an ein Meer, die Oſtſee, kamen, zum Theil heruͤ-


ber
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0060" n="38"/>
auch die Bildung des ve&#x017F;ten Landes erkla&#x0364;re. Ob &#x017F;ich nun<lb/>
ein &#x017F;olches phy&#x017F;i&#x017F;ches Naturge&#x017F;etz finden lie&#x017F;&#x017F;e? Ob &#x017F;ie als<lb/>
Stralen aus Einem Punkt? oder als Ae&#x017F;te aus Einem<lb/>
Stamm? oder als winklichte Hufei&#x017F;en da&#x017F;tehn? und was &#x017F;ie,<lb/>
da &#x017F;ie als nackte Gebu&#x0364;rge, als ein Gerippe der Erde hervor-<lb/>
ragten, fu&#x0364;r eine Bildungsregel hatten? Dies i&#x017F;t die wichti-<lb/>
ge bisher noch unaufgelo&#x0364;&#x017F;ete Frage, der ich eine gnugthuende<lb/>
Auflo&#x0364;&#x017F;ung wu&#x0364;n&#x017F;chte. Wohlver&#x017F;tanden nehmlich, daß ich hier<lb/>
nicht von herange&#x017F;chwemmten Bergen, &#x017F;ondern vom er&#x017F;ten<lb/>
Grund- und Urgebu&#x0364;rge der Erde rede.</p><lb/>
          <p>Gnug: wie &#x017F;ich die Gebu&#x0364;rge zogen, &#x017F;treckten &#x017F;ich auch<lb/>
die La&#x0364;nder. A&#x017F;ien ward zuer&#x017F;t bewohnbar, weil es die ho&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;ten und breite&#x017F;ten Bergketten und auf &#x017F;einem Ru&#x0364;cken eine<lb/>
Ebne be&#x017F;aß, die nie das Meer erreicht hat. Hier war al&#x017F;o<lb/>
nach aller Wahr&#x017F;cheinlichkeit irgend in einem glu&#x0364;ck&#x017F;e-<lb/>
ligen Thal am Fuß und im Bu&#x017F;en der Gebu&#x0364;rge der er&#x017F;te<lb/>
erle&#x017F;ene Wohn&#x017F;itz der Men&#x017F;chen. Von da breiteten &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;u&#x0364;dlich in die &#x017F;cho&#x0364;nen und fruchtbaren Ebnen la&#x0364;ng&#x017F;t den<lb/>
Stro&#x0364;men hinab; nordwa&#x0364;rts bildeten &#x017F;ich ha&#x0364;rtere Sta&#x0364;mme,<lb/>
die zwi&#x017F;chen Flu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en und Bergen umherzogen und &#x017F;ich mit<lb/>
der Zeit we&#x017F;twa&#x0364;rts bis nach Europa dra&#x0364;ngten. Ein Zug<lb/>
folgte dem andern: ein Volk dra&#x0364;ngte das andre; bis &#x017F;ie<lb/>
abermals an ein Meer, die O&#x017F;t&#x017F;ee, kamen, zum Theil heru&#x0364;-</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">ber</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0060] auch die Bildung des veſten Landes erklaͤre. Ob ſich nun ein ſolches phyſiſches Naturgeſetz finden lieſſe? Ob ſie als Stralen aus Einem Punkt? oder als Aeſte aus Einem Stamm? oder als winklichte Hufeiſen daſtehn? und was ſie, da ſie als nackte Gebuͤrge, als ein Gerippe der Erde hervor- ragten, fuͤr eine Bildungsregel hatten? Dies iſt die wichti- ge bisher noch unaufgeloͤſete Frage, der ich eine gnugthuende Aufloͤſung wuͤnſchte. Wohlverſtanden nehmlich, daß ich hier nicht von herangeſchwemmten Bergen, ſondern vom erſten Grund- und Urgebuͤrge der Erde rede. Gnug: wie ſich die Gebuͤrge zogen, ſtreckten ſich auch die Laͤnder. Aſien ward zuerſt bewohnbar, weil es die hoͤch- ſten und breiteſten Bergketten und auf ſeinem Ruͤcken eine Ebne beſaß, die nie das Meer erreicht hat. Hier war alſo nach aller Wahrſcheinlichkeit irgend in einem gluͤckſe- ligen Thal am Fuß und im Buſen der Gebuͤrge der erſte erleſene Wohnſitz der Menſchen. Von da breiteten ſie ſich ſuͤdlich in die ſchoͤnen und fruchtbaren Ebnen laͤngſt den Stroͤmen hinab; nordwaͤrts bildeten ſich haͤrtere Staͤmme, die zwiſchen Fluͤſſen und Bergen umherzogen und ſich mit der Zeit weſtwaͤrts bis nach Europa draͤngten. Ein Zug folgte dem andern: ein Volk draͤngte das andre; bis ſie abermals an ein Meer, die Oſtſee, kamen, zum Theil heruͤ- ber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/60
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/60>, abgerufen am 21.11.2024.