National-Begriffe und Meinungen solche Hirngemählde, ein- gewebte Züge der Phantasie vom vestesten Zusammenhange mit Leib und Seele.
2. Woher dieses? Hat jeder Einzelne dieser Menschen- heerden sich seine Mythologie erfunden, daß er sie etwa wie sein Eigenthum liebe? Mit nichten. Er hat nichts in ihr erfunden; er hat sie geerbt. Hätte er sie durch eignes Nach- denken zuwegegebracht: so könnte er auch durch eignes Nach- denken vom Schlechtern zum Beßern geführt werden; das ist aber hier der Fall nicht. Als Dobritzhofera) es einer gan- zen Schaar tapfrer und kluger Abiponer vorstellte, wie lächer- lich sie sich vor den Drohungen eines Zauberers, der sich in ei- nen Tyger verwandeln wollte, und dessen Klauen sie schon an sich zu fühlen meinten, entsetzten: "ihr erlegt, sprach er zu ihnen, täglich im Felde wahre Tyger, ohne euch darüber zu entsetzen; warum erblaßet ihr so feige über einen Eingebilde- ten, der nicht da ist? "Jhr Väter, sprach ein tapfrer Abipone, habt von unsern Sachen noch keine ächten Begriffe. Die Tyger auf dem Felde fürchten wir nicht, weil wir sie sehen: da erlegen wir sie ohne Mühe. Die künstlichen Tyger aber setzen uns in Angst, eben weil wir sie nicht sehen und also auch nicht zu tödten vermögen." Mich dünkt, hier liegt der Kno-
ten.
a)Dobritzhofer Gesch. der Abiponer Th. 1.
T 3
National-Begriffe und Meinungen ſolche Hirngemaͤhlde, ein- gewebte Zuͤge der Phantaſie vom veſteſten Zuſammenhange mit Leib und Seele.
2. Woher dieſes? Hat jeder Einzelne dieſer Menſchen- heerden ſich ſeine Mythologie erfunden, daß er ſie etwa wie ſein Eigenthum liebe? Mit nichten. Er hat nichts in ihr erfunden; er hat ſie geerbt. Haͤtte er ſie durch eignes Nach- denken zuwegegebracht: ſo koͤnnte er auch durch eignes Nach- denken vom Schlechtern zum Beßern gefuͤhrt werden; das iſt aber hier der Fall nicht. Als Dobritzhofera) es einer gan- zen Schaar tapfrer und kluger Abiponer vorſtellte, wie laͤcher- lich ſie ſich vor den Drohungen eines Zauberers, der ſich in ei- nen Tyger verwandeln wollte, und deſſen Klauen ſie ſchon an ſich zu fuͤhlen meinten, entſetzten: „ihr erlegt, ſprach er zu ihnen, taͤglich im Felde wahre Tyger, ohne euch daruͤber zu entſetzen; warum erblaßet ihr ſo feige uͤber einen Eingebilde- ten, der nicht da iſt? „Jhr Vaͤter, ſprach ein tapfrer Abipone, habt von unſern Sachen noch keine aͤchten Begriffe. Die Tyger auf dem Felde fuͤrchten wir nicht, weil wir ſie ſehen: da erlegen wir ſie ohne Muͤhe. Die kuͤnſtlichen Tyger aber ſetzen uns in Angſt, eben weil wir ſie nicht ſehen und alſo auch nicht zu toͤdten vermoͤgen.„ Mich duͤnkt, hier liegt der Kno-
ten.
a)Dobritzhofer Geſch. der Abiponer Th. 1.
T 3
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National-Begriffe und Meinungen ſolche Hirngemaͤhlde, ein-
gewebte Zuͤge der Phantaſie vom veſteſten Zuſammenhange
mit Leib und Seele.
2. Woher dieſes? Hat jeder Einzelne dieſer Menſchen-
heerden ſich ſeine Mythologie erfunden, daß er ſie etwa wie
ſein Eigenthum liebe? Mit nichten. Er hat nichts in ihr
erfunden; er hat ſie geerbt. Haͤtte er ſie durch eignes Nach-
denken zuwegegebracht: ſo koͤnnte er auch durch eignes Nach-
denken vom Schlechtern zum Beßern gefuͤhrt werden; das iſt
aber hier der Fall nicht. Als Dobritzhofer a) es einer gan-
zen Schaar tapfrer und kluger Abiponer vorſtellte, wie laͤcher-
lich ſie ſich vor den Drohungen eines Zauberers, der ſich in ei-
nen Tyger verwandeln wollte, und deſſen Klauen ſie ſchon an
ſich zu fuͤhlen meinten, entſetzten: „ihr erlegt, ſprach er zu
ihnen, taͤglich im Felde wahre Tyger, ohne euch daruͤber zu
entſetzen; warum erblaßet ihr ſo feige uͤber einen Eingebilde-
ten, der nicht da iſt? „Jhr Vaͤter, ſprach ein tapfrer Abipone,
habt von unſern Sachen noch keine aͤchten Begriffe. Die
Tyger auf dem Felde fuͤrchten wir nicht, weil wir ſie ſehen:
da erlegen wir ſie ohne Muͤhe. Die kuͤnſtlichen Tyger aber
ſetzen uns in Angſt, eben weil wir ſie nicht ſehen und alſo auch
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a) Dobritzhofer Geſch. der Abiponer Th. 1.
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/161>, abgerufen am 22.12.2024.
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