ten. Wären uns alle Begriffe so klar, wie Begriffe des Auges, hätten wir keine andern Einbildungen, als die wir von Gegenständen des Gesichts abgezogen hätten und mit ihnen vergleichen könnten: so wäre die Quelle des Betruges und Jrrthums, wo nicht verstopft so doch wenigstens bald erkenn- bar. Nun aber sind die meisten Phantasieen der Völker Töchter des Ohrs und der Erzählung. Neugierig horchte das unwissende Kind den Sagen, die wie Milch der Mutter, wie ein festlicher Wein des väterlichen Geschlechts in seine Seele floßen und sie nährten. Sie schienen ihm, was es sah, zu erklären: dem Jünglinge gaben sie Bericht von der Lebens- art seines Stammes und von seiner Väter Ehre: sie weihe- ten den Mann national und klimatisch in seinem Beruf ein und so wurden sie auch untrennbar von seinem ganzen Leben. Der Grönländer und Tunguse sieht Lebenslang nun wirklich was er in seiner Kindheit eigentlich nur reden hörte und so glaubt ers als eine gesehene Wahrheit. Daher die schreck- haften Gebräuche so vieler, der entferntsten Völker bei Mond- und Sonnenfinsternissen; daher ihr fürchterlicher Glaube an die Geister der Luft, des Meers und aller Elemente. Wo irgend Bewegung in der Natur ist, wo eine Sache zu leben scheint und sich verändert, ohne daß das Auge die Gesetze der Veränderung wahrnimmt: da höret das Ohr Stimmen und Rede, die ihm das Räthsel des Gesehenen durchs Nichtge-
sehene
ten. Waͤren uns alle Begriffe ſo klar, wie Begriffe des Auges, haͤtten wir keine andern Einbildungen, als die wir von Gegenſtaͤnden des Geſichts abgezogen haͤtten und mit ihnen vergleichen koͤnnten: ſo waͤre die Quelle des Betruges und Jrrthums, wo nicht verſtopft ſo doch wenigſtens bald erkenn- bar. Nun aber ſind die meiſten Phantaſieen der Voͤlker Toͤchter des Ohrs und der Erzaͤhlung. Neugierig horchte das unwiſſende Kind den Sagen, die wie Milch der Mutter, wie ein feſtlicher Wein des vaͤterlichen Geſchlechts in ſeine Seele floßen und ſie naͤhrten. Sie ſchienen ihm, was es ſah, zu erklaͤren: dem Juͤnglinge gaben ſie Bericht von der Lebens- art ſeines Stammes und von ſeiner Vaͤter Ehre: ſie weihe- ten den Mann national und klimatiſch in ſeinem Beruf ein und ſo wurden ſie auch untrennbar von ſeinem ganzen Leben. Der Groͤnlaͤnder und Tunguſe ſieht Lebenslang nun wirklich was er in ſeiner Kindheit eigentlich nur reden hoͤrte und ſo glaubt ers als eine geſehene Wahrheit. Daher die ſchreck- haften Gebraͤuche ſo vieler, der entferntſten Voͤlker bei Mond- und Sonnenfinſterniſſen; daher ihr fuͤrchterlicher Glaube an die Geiſter der Luft, des Meers und aller Elemente. Wo irgend Bewegung in der Natur iſt, wo eine Sache zu leben ſcheint und ſich veraͤndert, ohne daß das Auge die Geſetze der Veraͤnderung wahrnimmt: da hoͤret das Ohr Stimmen und Rede, die ihm das Raͤthſel des Geſehenen durchs Nichtge-
ſehene
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ten. Waͤren uns alle Begriffe ſo klar, wie Begriffe des
Auges, haͤtten wir keine andern Einbildungen, als die wir von
Gegenſtaͤnden des Geſichts abgezogen haͤtten und mit ihnen
vergleichen koͤnnten: ſo waͤre die Quelle des Betruges und
Jrrthums, wo nicht verſtopft ſo doch wenigſtens bald erkenn-
bar. Nun aber ſind die meiſten Phantaſieen der Voͤlker
Toͤchter des Ohrs und der Erzaͤhlung. Neugierig horchte
das unwiſſende Kind den Sagen, die wie Milch der Mutter,
wie ein feſtlicher Wein des vaͤterlichen Geſchlechts in ſeine
Seele floßen und ſie naͤhrten. Sie ſchienen ihm, was es ſah,
zu erklaͤren: dem Juͤnglinge gaben ſie Bericht von der Lebens-
art ſeines Stammes und von ſeiner Vaͤter Ehre: ſie weihe-
ten den Mann national und klimatiſch in ſeinem Beruf ein
und ſo wurden ſie auch untrennbar von ſeinem ganzen Leben.
Der Groͤnlaͤnder und Tunguſe ſieht Lebenslang nun wirklich
was er in ſeiner Kindheit eigentlich nur reden hoͤrte und ſo
glaubt ers als eine geſehene Wahrheit. Daher die ſchreck-
haften Gebraͤuche ſo vieler, der entferntſten Voͤlker bei Mond-
und Sonnenfinſterniſſen; daher ihr fuͤrchterlicher Glaube an
die Geiſter der Luft, des Meers und aller Elemente. Wo
irgend Bewegung in der Natur iſt, wo eine Sache zu leben
ſcheint und ſich veraͤndert, ohne daß das Auge die Geſetze der
Veraͤnderung wahrnimmt: da hoͤret das Ohr Stimmen und
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/162>, abgerufen am 22.12.2024.
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