Mythologie jedes Volks ist ein Abdruck der eigentlichen Art, wie es die Natur ansah, insonderheit ob es seinem Klima und Genius nach, mehr Gutes oder Uebel in derselben fand und wie es sich etwa das Eine durch das Andre zu erklären suchte. Auch in den wildesten Strichen also und in den mißrathensten Zügen ist sie ein philosophischer Versuch der menschlichen Seele, die ehe sie aufwacht, träumt und gern in ihrer Kindheit bleibet.
5. Gewöhnlich siehet man die Angekoks, die Zauberer, Magier, Schamanen und Priester als die Urheber dieser Ver- blendungen des Volks an und glaubt, alles erklärt zu haben, wenn man sie Betrüger nennet. An den meisten Orten sind sie es freilich; nie aber vergesse man, daß sie selbst Volk sind und also auch Betrogene älterer Sagen waren. Jn der Masse der Einbildungen ihres Stammes wurden sie erzeugt und erzogen: ihre Weihung geschah durch Fasten, Einsamkeit, Anstrengung der Phantasie, durch Abmattung des Leibes und der Seele; daher niemand ein Zauberer ward, bis ihm sein Geist erschien und also in seiner Seele zuerst das Werk vollen- det war, das er nachher Lebenslang, mit wiederholter ähnli- cher Anstrengung der Gedanken und Abmattung des Leibes für andre treibet. Die kältesten Reisenden musten bei manchen Gaukelspielen dieser Art erstaunen, weil sie Erfolge der Ein- bildungskraft sahen, die sie kaum möglich geglaubt hatten und
sich
Mythologie jedes Volks iſt ein Abdruck der eigentlichen Art, wie es die Natur anſah, inſonderheit ob es ſeinem Klima und Genius nach, mehr Gutes oder Uebel in derſelben fand und wie es ſich etwa das Eine durch das Andre zu erklaͤren ſuchte. Auch in den wildeſten Strichen alſo und in den mißrathenſten Zuͤgen iſt ſie ein philoſophiſcher Verſuch der menſchlichen Seele, die ehe ſie aufwacht, traͤumt und gern in ihrer Kindheit bleibet.
5. Gewoͤhnlich ſiehet man die Angekoks, die Zauberer, Magier, Schamanen und Prieſter als die Urheber dieſer Ver- blendungen des Volks an und glaubt, alles erklaͤrt zu haben, wenn man ſie Betruͤger nennet. An den meiſten Orten ſind ſie es freilich; nie aber vergeſſe man, daß ſie ſelbſt Volk ſind und alſo auch Betrogene aͤlterer Sagen waren. Jn der Maſſe der Einbildungen ihres Stammes wurden ſie erzeugt und erzogen: ihre Weihung geſchah durch Faſten, Einſamkeit, Anſtrengung der Phantaſie, durch Abmattung des Leibes und der Seele; daher niemand ein Zauberer ward, bis ihm ſein Geiſt erſchien und alſo in ſeiner Seele zuerſt das Werk vollen- det war, das er nachher Lebenslang, mit wiederholter aͤhnli- cher Anſtrengung der Gedanken und Abmattung des Leibes fuͤr andre treibet. Die kaͤlteſten Reiſenden muſten bei manchen Gaukelſpielen dieſer Art erſtaunen, weil ſie Erfolge der Ein- bildungskraft ſahen, die ſie kaum moͤglich geglaubt hatten und
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Mythologie jedes Volks iſt ein Abdruck der eigentlichen Art,
wie es die Natur anſah, inſonderheit ob es ſeinem Klima und
Genius nach, mehr Gutes oder Uebel in derſelben fand und
wie es ſich etwa das Eine durch das Andre zu erklaͤren ſuchte.
Auch in den wildeſten Strichen alſo und in den mißrathenſten
Zuͤgen iſt ſie ein philoſophiſcher Verſuch der menſchlichen Seele,
die ehe ſie aufwacht, traͤumt und gern in ihrer Kindheit bleibet.
5. Gewoͤhnlich ſiehet man die Angekoks, die Zauberer,
Magier, Schamanen und Prieſter als die Urheber dieſer Ver-
blendungen des Volks an und glaubt, alles erklaͤrt zu haben,
wenn man ſie Betruͤger nennet. An den meiſten Orten ſind
ſie es freilich; nie aber vergeſſe man, daß ſie ſelbſt Volk ſind
und alſo auch Betrogene aͤlterer Sagen waren. Jn der
Maſſe der Einbildungen ihres Stammes wurden ſie erzeugt
und erzogen: ihre Weihung geſchah durch Faſten, Einſamkeit,
Anſtrengung der Phantaſie, durch Abmattung des Leibes und
der Seele; daher niemand ein Zauberer ward, bis ihm ſein
Geiſt erſchien und alſo in ſeiner Seele zuerſt das Werk vollen-
det war, das er nachher Lebenslang, mit wiederholter aͤhnli-
cher Anſtrengung der Gedanken und Abmattung des Leibes
fuͤr andre treibet. Die kaͤlteſten Reiſenden muſten bei manchen
Gaukelſpielen dieſer Art erſtaunen, weil ſie Erfolge der Ein-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/166>, abgerufen am 22.12.2024.
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