sich oft nicht zu erklären wußten. Ueberhaupt ist die Phan- tasie noch die unerforschteste und vielleicht die unerforschlichste aller menschlichen Seelenkräfte: denn da sie mit dem ganzen Bau des Körpers, insonderheit mit dem Gehirn und den Nerven zusammenhangt, wie so viel wunderbare Krankheiten zeigen: so scheint sie nicht nur das Band und die Grundlage aller feinern Seelenkräfte sondern auch der Knote des Zusam- menhanges zwischen Geist und Körper zu seyn, gleichsam die sproßende Blüthe der ganzen sinnlichen Organisation zum wei- tern Gebrauch der denkenden Kräfte. Nothwendig ist sie also auch das Erste, was von Eltern auf Kinder übergeht, wie dies abermals viele widernatürliche Beispiele, sammt der un- anstreitbaren Aehnlichkeit des äußern und innern Organismus auch in den zufälligsten Dingen bewähret. Man hat lange gestritten, ob es angebohrne Jdeen gebe? und wie man das Wort verstand, finden sie freilich nicht statt; nimmt man es aber für die nächste Anlage zum Empfängniß, zur Verbin- dung, zur Ausbreitung gewisser Jdeen und Bilder: so schei- net ihnen nicht nur nichts entgegen, sondern auch alles für sie. Kann ein Sohn sechs Finger, konnte die Familie des Porcu- pine-man in England seinen unmenschlichen Auswuchs erben, geht die äußere Bildung des Kopfs und Angesichts oft augen- scheinlich über; wie könnte es ohne Wunder geschehen, daß nicht auch die Bildung des Gehirns überginge und sich vielleicht
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ſich oft nicht zu erklaͤren wußten. Ueberhaupt iſt die Phan- taſie noch die unerforſchteſte und vielleicht die unerforſchlichſte aller menſchlichen Seelenkraͤfte: denn da ſie mit dem ganzen Bau des Koͤrpers, inſonderheit mit dem Gehirn und den Nerven zuſammenhangt, wie ſo viel wunderbare Krankheiten zeigen: ſo ſcheint ſie nicht nur das Band und die Grundlage aller feinern Seelenkraͤfte ſondern auch der Knote des Zuſam- menhanges zwiſchen Geiſt und Koͤrper zu ſeyn, gleichſam die ſproßende Bluͤthe der ganzen ſinnlichen Organiſation zum wei- tern Gebrauch der denkenden Kraͤfte. Nothwendig iſt ſie alſo auch das Erſte, was von Eltern auf Kinder uͤbergeht, wie dies abermals viele widernatuͤrliche Beiſpiele, ſammt der un- anſtreitbaren Aehnlichkeit des aͤußern und innern Organismus auch in den zufaͤlligſten Dingen bewaͤhret. Man hat lange geſtritten, ob es angebohrne Jdeen gebe? und wie man das Wort verſtand, finden ſie freilich nicht ſtatt; nimmt man es aber fuͤr die naͤchſte Anlage zum Empfaͤngniß, zur Verbin- dung, zur Ausbreitung gewiſſer Jdeen und Bilder: ſo ſchei- net ihnen nicht nur nichts entgegen, ſondern auch alles fuͤr ſie. Kann ein Sohn ſechs Finger, konnte die Familie des Porcu- pine-man in England ſeinen unmenſchlichen Auswuchs erben, geht die aͤußere Bildung des Kopfs und Angeſichts oft augen- ſcheinlich uͤber; wie koͤnnte es ohne Wunder geſchehen, daß nicht auch die Bildung des Gehirns uͤberginge und ſich vielleicht
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ſich oft nicht zu erklaͤren wußten. Ueberhaupt iſt die Phan-
taſie noch die unerforſchteſte und vielleicht die unerforſchlichſte
aller menſchlichen Seelenkraͤfte: denn da ſie mit dem ganzen
Bau des Koͤrpers, inſonderheit mit dem Gehirn und den
Nerven zuſammenhangt, wie ſo viel wunderbare Krankheiten
zeigen: ſo ſcheint ſie nicht nur das Band und die Grundlage
aller feinern Seelenkraͤfte ſondern auch der Knote des Zuſam-
menhanges zwiſchen Geiſt und Koͤrper zu ſeyn, gleichſam die
ſproßende Bluͤthe der ganzen ſinnlichen Organiſation zum wei-
tern Gebrauch der denkenden Kraͤfte. Nothwendig iſt ſie
alſo auch das Erſte, was von Eltern auf Kinder uͤbergeht, wie
dies abermals viele widernatuͤrliche Beiſpiele, ſammt der un-
anſtreitbaren Aehnlichkeit des aͤußern und innern Organismus
auch in den zufaͤlligſten Dingen bewaͤhret. Man hat lange
geſtritten, ob es angebohrne Jdeen gebe? und wie man das
Wort verſtand, finden ſie freilich nicht ſtatt; nimmt man es
aber fuͤr die naͤchſte Anlage zum Empfaͤngniß, zur Verbin-
dung, zur Ausbreitung gewiſſer Jdeen und Bilder: ſo ſchei-
net ihnen nicht nur nichts entgegen, ſondern auch alles fuͤr ſie.
Kann ein Sohn ſechs Finger, konnte die Familie des Porcu-
pine-man in England ſeinen unmenſchlichen Auswuchs erben,
geht die aͤußere Bildung des Kopfs und Angeſichts oft augen-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/167>, abgerufen am 22.12.2024.
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