Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

in ihren feinsten organischen Faltungen vererbte? Unter man-
chen Nationen herrschen Krankheiten der Phantasie, von de-
nen wir keinen Begrif haben: alle Mitbrüder des Kranken
schonen sein Uebel, weil sie die genetische Disposition dazu in
sich fühlen. Unter den tapfern und gesunden Abiponern z. B.
herrscht ein periodischer Wahnsinn, von welchem in den Zwi-
schenstunden der Wütende nichts weiß: er ist gesund, wie er
gesund war; nur seine Seele, sagen sie, ist nicht bei ihm.
Unter mehrern Völkern hat man, diesem Uebel Ausbruch zu
geben, Traumfeste verordnet, da dem Träumenden alles, was
ihm sein Geist befiehlt, zu thun erlaubt ist. Ueberhaupt sind
bei allen Phantasiereichen Völkern die Träume wunderbar
mächtig; ja wahrscheinlich waren auch Träume die ersten Mu-
sen, die Mütter der eigentlichen Fiction und Dichtkunst. Sie
brachten die Menschen auf Gestalten und Dinge, die kein Auge
gesehen hatte, deren Wunsch aber in der menschlichen Seele
lag: denn was z. B. war natürlicher, als daß geliebte Ver-
storbene dem Hinterlassenen in Träumen erschienen und daß
die so lange wachend mit uns gelebt hatten, jetzt wenigstens
als Schatten im Traum mit uns zu leben wünschten. Die
Geschichte der Nationen wird zeigen, wie die Vorsehung das
Organ der Einbildung, wodurch sie so stark, so rein und na-
türlich auf Menschen wirken konnte, gebraucht habe; abscheu-
lich aber wars, wenn der Betrug oder der Despotismus es

mis-

in ihren feinſten organiſchen Faltungen vererbte? Unter man-
chen Nationen herrſchen Krankheiten der Phantaſie, von de-
nen wir keinen Begrif haben: alle Mitbruͤder des Kranken
ſchonen ſein Uebel, weil ſie die genetiſche Diſpoſition dazu in
ſich fuͤhlen. Unter den tapfern und geſunden Abiponern z. B.
herrſcht ein periodiſcher Wahnſinn, von welchem in den Zwi-
ſchenſtunden der Wuͤtende nichts weiß: er iſt geſund, wie er
geſund war; nur ſeine Seele, ſagen ſie, iſt nicht bei ihm.
Unter mehrern Voͤlkern hat man, dieſem Uebel Ausbruch zu
geben, Traumfeſte verordnet, da dem Traͤumenden alles, was
ihm ſein Geiſt befiehlt, zu thun erlaubt iſt. Ueberhaupt ſind
bei allen Phantaſiereichen Voͤlkern die Traͤume wunderbar
maͤchtig; ja wahrſcheinlich waren auch Traͤume die erſten Mu-
ſen, die Muͤtter der eigentlichen Fiction und Dichtkunſt. Sie
brachten die Menſchen auf Geſtalten und Dinge, die kein Auge
geſehen hatte, deren Wunſch aber in der menſchlichen Seele
lag: denn was z. B. war natuͤrlicher, als daß geliebte Ver-
ſtorbene dem Hinterlaſſenen in Traͤumen erſchienen und daß
die ſo lange wachend mit uns gelebt hatten, jetzt wenigſtens
als Schatten im Traum mit uns zu leben wuͤnſchten. Die
Geſchichte der Nationen wird zeigen, wie die Vorſehung das
Organ der Einbildung, wodurch ſie ſo ſtark, ſo rein und na-
tuͤrlich auf Menſchen wirken konnte, gebraucht habe; abſcheu-
lich aber wars, wenn der Betrug oder der Deſpotismus es

mis-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0168" n="156"/>
in ihren fein&#x017F;ten organi&#x017F;chen Faltungen vererbte? Unter man-<lb/>
chen Nationen herr&#x017F;chen Krankheiten der Phanta&#x017F;ie, von de-<lb/>
nen wir keinen Begrif haben: alle Mitbru&#x0364;der des Kranken<lb/>
&#x017F;chonen &#x017F;ein Uebel, weil &#x017F;ie die geneti&#x017F;che Di&#x017F;po&#x017F;ition dazu in<lb/>
&#x017F;ich fu&#x0364;hlen. Unter den tapfern und ge&#x017F;unden Abiponern z. B.<lb/>
herr&#x017F;cht ein periodi&#x017F;cher Wahn&#x017F;inn, von welchem in den Zwi-<lb/>
&#x017F;chen&#x017F;tunden der Wu&#x0364;tende nichts weiß: er i&#x017F;t ge&#x017F;und, wie er<lb/>
ge&#x017F;und war; nur &#x017F;eine Seele, &#x017F;agen &#x017F;ie, i&#x017F;t nicht bei ihm.<lb/>
Unter mehrern Vo&#x0364;lkern hat man, die&#x017F;em Uebel Ausbruch zu<lb/>
geben, Traumfe&#x017F;te verordnet, da dem Tra&#x0364;umenden alles, was<lb/>
ihm &#x017F;ein Gei&#x017F;t befiehlt, zu thun erlaubt i&#x017F;t. Ueberhaupt &#x017F;ind<lb/>
bei allen Phanta&#x017F;iereichen Vo&#x0364;lkern die Tra&#x0364;ume wunderbar<lb/>
ma&#x0364;chtig; ja wahr&#x017F;cheinlich waren auch Tra&#x0364;ume die er&#x017F;ten Mu-<lb/>
&#x017F;en, die Mu&#x0364;tter der eigentlichen Fiction und Dichtkun&#x017F;t. Sie<lb/>
brachten die Men&#x017F;chen auf Ge&#x017F;talten und Dinge, die kein Auge<lb/>
ge&#x017F;ehen hatte, deren Wun&#x017F;ch aber in der men&#x017F;chlichen Seele<lb/>
lag: denn was z. B. war natu&#x0364;rlicher, als daß geliebte Ver-<lb/>
&#x017F;torbene dem Hinterla&#x017F;&#x017F;enen in Tra&#x0364;umen er&#x017F;chienen und daß<lb/>
die &#x017F;o lange wachend mit uns gelebt hatten, jetzt wenig&#x017F;tens<lb/>
als Schatten im Traum mit uns zu leben wu&#x0364;n&#x017F;chten. Die<lb/>
Ge&#x017F;chichte der Nationen wird zeigen, wie die Vor&#x017F;ehung das<lb/>
Organ der Einbildung, wodurch &#x017F;ie &#x017F;o &#x017F;tark, &#x017F;o rein und na-<lb/>
tu&#x0364;rlich auf Men&#x017F;chen wirken konnte, gebraucht habe; ab&#x017F;cheu-<lb/>
lich aber wars, wenn der Betrug oder der De&#x017F;potismus es<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mis-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[156/0168] in ihren feinſten organiſchen Faltungen vererbte? Unter man- chen Nationen herrſchen Krankheiten der Phantaſie, von de- nen wir keinen Begrif haben: alle Mitbruͤder des Kranken ſchonen ſein Uebel, weil ſie die genetiſche Diſpoſition dazu in ſich fuͤhlen. Unter den tapfern und geſunden Abiponern z. B. herrſcht ein periodiſcher Wahnſinn, von welchem in den Zwi- ſchenſtunden der Wuͤtende nichts weiß: er iſt geſund, wie er geſund war; nur ſeine Seele, ſagen ſie, iſt nicht bei ihm. Unter mehrern Voͤlkern hat man, dieſem Uebel Ausbruch zu geben, Traumfeſte verordnet, da dem Traͤumenden alles, was ihm ſein Geiſt befiehlt, zu thun erlaubt iſt. Ueberhaupt ſind bei allen Phantaſiereichen Voͤlkern die Traͤume wunderbar maͤchtig; ja wahrſcheinlich waren auch Traͤume die erſten Mu- ſen, die Muͤtter der eigentlichen Fiction und Dichtkunſt. Sie brachten die Menſchen auf Geſtalten und Dinge, die kein Auge geſehen hatte, deren Wunſch aber in der menſchlichen Seele lag: denn was z. B. war natuͤrlicher, als daß geliebte Ver- ſtorbene dem Hinterlaſſenen in Traͤumen erſchienen und daß die ſo lange wachend mit uns gelebt hatten, jetzt wenigſtens als Schatten im Traum mit uns zu leben wuͤnſchten. Die Geſchichte der Nationen wird zeigen, wie die Vorſehung das Organ der Einbildung, wodurch ſie ſo ſtark, ſo rein und na- tuͤrlich auf Menſchen wirken konnte, gebraucht habe; abſcheu- lich aber wars, wenn der Betrug oder der Deſpotismus es mis-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/168
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/168>, abgerufen am 22.12.2024.