Glaube niemand, daß ich einer Lebensart, die die Vor- sehung zu einem ihrer vornehmsten Mittel gebraucht hat, die Menschen zur bürgerlichen Gesellschaft zu bereiten, etwas von ihrem Werth rauben wolle: denn auch ich esse Brod der Erde. Nur lasse man auch andern Lebensarten Gerechtigkeit wieder- fahren, die der Beschaffenheit unsrer Erde nach eben so wohl zu Erzieherinnen der Menschheit bestimmt sind als das Leben der Ackerleute. Ueberhaupt bauet der kleinste Theil der Erd- bewohner den Acker nach unsrer Weise und die Natur hat ihm sein anderweites Leben selbst angewiesen. Jene zahlreiche Völkerschaften, die von Wurzeln, vom Reiß, von Baumfrüch- ten, von der Jagd des Wassers, der Luft und der Erde leben, die ungezählten Nomaden, wenn sie sich gleich jetzo etwa nach- barliches Brod kaufen oder etwas Getreide bauen, alle Völ- ker, die den Landbau ohne Eigenthum oder durch ihre Weiber und Knechte treiben, sind alle noch eigentlich nicht Ackerleute; und welch ein kleiner Theil der Erde bleibt also dieser künst- lichen Lebensart übrig? Nun hat die Natur entweder allent- halben ihren Zweck erreicht, oder sie erreichte ihn nirgend. Der praktische Verstand der Menschen sollte in allen Varietäten aufblühen und Früchte tragen: darum ward dem vielartig- sten Geschlecht eine so vielartige Erde.
IV.
Y 2
Glaube niemand, daß ich einer Lebensart, die die Vor- ſehung zu einem ihrer vornehmſten Mittel gebraucht hat, die Menſchen zur buͤrgerlichen Geſellſchaft zu bereiten, etwas von ihrem Werth rauben wolle: denn auch ich eſſe Brod der Erde. Nur laſſe man auch andern Lebensarten Gerechtigkeit wieder- fahren, die der Beſchaffenheit unſrer Erde nach eben ſo wohl zu Erzieherinnen der Menſchheit beſtimmt ſind als das Leben der Ackerleute. Ueberhaupt bauet der kleinſte Theil der Erd- bewohner den Acker nach unſrer Weiſe und die Natur hat ihm ſein anderweites Leben ſelbſt angewieſen. Jene zahlreiche Voͤlkerſchaften, die von Wurzeln, vom Reiß, von Baumfruͤch- ten, von der Jagd des Waſſers, der Luft und der Erde leben, die ungezaͤhlten Nomaden, wenn ſie ſich gleich jetzo etwa nach- barliches Brod kaufen oder etwas Getreide bauen, alle Voͤl- ker, die den Landbau ohne Eigenthum oder durch ihre Weiber und Knechte treiben, ſind alle noch eigentlich nicht Ackerleute; und welch ein kleiner Theil der Erde bleibt alſo dieſer kuͤnſt- lichen Lebensart uͤbrig? Nun hat die Natur entweder allent- halben ihren Zweck erreicht, oder ſie erreichte ihn nirgend. Der praktiſche Verſtand der Menſchen ſollte in allen Varietaͤten aufbluͤhen und Fruͤchte tragen: darum ward dem vielartig- ſten Geſchlecht eine ſo vielartige Erde.
IV.
Y 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0183"n="171"/><p>Glaube niemand, daß ich einer Lebensart, die die Vor-<lb/>ſehung zu einem ihrer vornehmſten Mittel gebraucht hat, die<lb/>
Menſchen zur buͤrgerlichen Geſellſchaft zu bereiten, etwas von<lb/>
ihrem Werth rauben wolle: denn auch ich eſſe Brod der Erde.<lb/>
Nur laſſe man auch andern Lebensarten Gerechtigkeit wieder-<lb/>
fahren, die der Beſchaffenheit unſrer Erde nach eben ſo wohl<lb/>
zu Erzieherinnen der Menſchheit beſtimmt ſind als das Leben<lb/>
der Ackerleute. Ueberhaupt bauet der kleinſte Theil der Erd-<lb/>
bewohner den Acker nach unſrer Weiſe und die Natur hat<lb/>
ihm ſein anderweites Leben ſelbſt angewieſen. Jene zahlreiche<lb/>
Voͤlkerſchaften, die von Wurzeln, vom Reiß, von Baumfruͤch-<lb/>
ten, von der Jagd des Waſſers, der Luft und der Erde leben,<lb/>
die ungezaͤhlten Nomaden, wenn ſie ſich gleich jetzo etwa nach-<lb/>
barliches Brod kaufen oder etwas Getreide bauen, alle Voͤl-<lb/>
ker, die den Landbau ohne Eigenthum oder durch ihre Weiber<lb/>
und Knechte treiben, ſind alle noch eigentlich nicht Ackerleute;<lb/>
und welch ein kleiner Theil der Erde bleibt alſo dieſer kuͤnſt-<lb/>
lichen Lebensart uͤbrig? Nun hat die Natur entweder allent-<lb/>
halben ihren Zweck erreicht, oder ſie erreichte ihn nirgend. Der<lb/>
praktiſche Verſtand der Menſchen ſollte in allen Varietaͤten<lb/>
aufbluͤhen und Fruͤchte tragen: darum ward dem vielartig-<lb/>ſten Geſchlecht eine ſo vielartige Erde.</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="sig">Y 2</fw><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#aq">IV.</hi></fw><lb/></div></body></text></TEI>
[171/0183]
Glaube niemand, daß ich einer Lebensart, die die Vor-
ſehung zu einem ihrer vornehmſten Mittel gebraucht hat, die
Menſchen zur buͤrgerlichen Geſellſchaft zu bereiten, etwas von
ihrem Werth rauben wolle: denn auch ich eſſe Brod der Erde.
Nur laſſe man auch andern Lebensarten Gerechtigkeit wieder-
fahren, die der Beſchaffenheit unſrer Erde nach eben ſo wohl
zu Erzieherinnen der Menſchheit beſtimmt ſind als das Leben
der Ackerleute. Ueberhaupt bauet der kleinſte Theil der Erd-
bewohner den Acker nach unſrer Weiſe und die Natur hat
ihm ſein anderweites Leben ſelbſt angewieſen. Jene zahlreiche
Voͤlkerſchaften, die von Wurzeln, vom Reiß, von Baumfruͤch-
ten, von der Jagd des Waſſers, der Luft und der Erde leben,
die ungezaͤhlten Nomaden, wenn ſie ſich gleich jetzo etwa nach-
barliches Brod kaufen oder etwas Getreide bauen, alle Voͤl-
ker, die den Landbau ohne Eigenthum oder durch ihre Weiber
und Knechte treiben, ſind alle noch eigentlich nicht Ackerleute;
und welch ein kleiner Theil der Erde bleibt alſo dieſer kuͤnſt-
lichen Lebensart uͤbrig? Nun hat die Natur entweder allent-
halben ihren Zweck erreicht, oder ſie erreichte ihn nirgend. Der
praktiſche Verſtand der Menſchen ſollte in allen Varietaͤten
aufbluͤhen und Fruͤchte tragen: darum ward dem vielartig-
ſten Geſchlecht eine ſo vielartige Erde.
IV.
Y 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/183>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.