Es hat Philosophen gegeben, die unser Geschlecht, dieses Triebes der Selbsterhaltung wegen, unter die reissenden Thie- re gesetzt und seinen natürlichen Zustand zu einem Stande des Kriegs gemacht haben. Offenbar ist viel Uneigentliches in dieser Behauptung. Freilich indem der Mensch die Frucht eines Baums bricht, ist er ein Räuber, indem er ein Thier tödtet, ein Mörder und wenn er mit seinem Fuß, mit seinem Hauch vielleicht einer zahllosen Menge ungesehener Lebendigen das Leben nimmt, ist er der ärgste Unterdrücker der Erde. Jedermann weiß, wie weit es die zarte Jndische, so wie die übertriebne Aegyptische Philosophie zu bringen gesucht hat, damit der Mensch ein ganz unschädliches Geschöpf werde; aber für die Spekulation vergebens. Jns Chaos der Elemente sehen wir nicht; und wenn wir kein großes Thier verzehren, verschlingen wir eine Menge kleiner Lebendiger im Wasser, in der Luft, der Milch, den Gewächsen.
Von dieser Grübelei also hinweg, stellen wir den Men- schen unter seine Brüder und fragen: ist er von Natur ein Raubthier gegen Seinesgleichen, ein ungeselliges Wesen? Seiner Gestalt nach ist er das Erste nicht und seiner Geburt nach das Letzte noch minder. Jm Schoos der Liebe empfan- gen und an ihrem Busen gesäuget, wird er von Menschen auferzogen und empfieng von ihnen tausend Gutes, das er
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Es hat Philoſophen gegeben, die unſer Geſchlecht, dieſes Triebes der Selbſterhaltung wegen, unter die reiſſenden Thie- re geſetzt und ſeinen natuͤrlichen Zuſtand zu einem Stande des Kriegs gemacht haben. Offenbar iſt viel Uneigentliches in dieſer Behauptung. Freilich indem der Menſch die Frucht eines Baums bricht, iſt er ein Raͤuber, indem er ein Thier toͤdtet, ein Moͤrder und wenn er mit ſeinem Fuß, mit ſeinem Hauch vielleicht einer zahlloſen Menge ungeſehener Lebendigen das Leben nimmt, iſt er der aͤrgſte Unterdruͤcker der Erde. Jedermann weiß, wie weit es die zarte Jndiſche, ſo wie die uͤbertriebne Aegyptiſche Philoſophie zu bringen geſucht hat, damit der Menſch ein ganz unſchaͤdliches Geſchoͤpf werde; aber fuͤr die Spekulation vergebens. Jns Chaos der Elemente ſehen wir nicht; und wenn wir kein großes Thier verzehren, verſchlingen wir eine Menge kleiner Lebendiger im Waſſer, in der Luft, der Milch, den Gewaͤchſen.
Von dieſer Gruͤbelei alſo hinweg, ſtellen wir den Men- ſchen unter ſeine Bruͤder und fragen: iſt er von Natur ein Raubthier gegen Seinesgleichen, ein ungeſelliges Weſen? Seiner Geſtalt nach iſt er das Erſte nicht und ſeiner Geburt nach das Letzte noch minder. Jm Schoos der Liebe empfan- gen und an ihrem Buſen geſaͤuget, wird er von Menſchen auferzogen und empfieng von ihnen tauſend Gutes, das er
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Es hat Philoſophen gegeben, die unſer Geſchlecht, dieſes
Triebes der Selbſterhaltung wegen, unter die reiſſenden Thie-
re geſetzt und ſeinen natuͤrlichen Zuſtand zu einem Stande des
Kriegs gemacht haben. Offenbar iſt viel Uneigentliches in
dieſer Behauptung. Freilich indem der Menſch die Frucht
eines Baums bricht, iſt er ein Raͤuber, indem er ein Thier
toͤdtet, ein Moͤrder und wenn er mit ſeinem Fuß, mit ſeinem
Hauch vielleicht einer zahlloſen Menge ungeſehener Lebendigen
das Leben nimmt, iſt er der aͤrgſte Unterdruͤcker der Erde.
Jedermann weiß, wie weit es die zarte Jndiſche, ſo wie die
uͤbertriebne Aegyptiſche Philoſophie zu bringen geſucht hat,
damit der Menſch ein ganz unſchaͤdliches Geſchoͤpf werde; aber
fuͤr die Spekulation vergebens. Jns Chaos der Elemente
ſehen wir nicht; und wenn wir kein großes Thier verzehren,
verſchlingen wir eine Menge kleiner Lebendiger im Waſſer, in
der Luft, der Milch, den Gewaͤchſen.
Von dieſer Gruͤbelei alſo hinweg, ſtellen wir den Men-
ſchen unter ſeine Bruͤder und fragen: iſt er von Natur ein
Raubthier gegen Seinesgleichen, ein ungeſelliges Weſen?
Seiner Geſtalt nach iſt er das Erſte nicht und ſeiner Geburt
nach das Letzte noch minder. Jm Schoos der Liebe empfan-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/185>, abgerufen am 22.12.2024.
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