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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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2. Diesem divergirenden Geschlecht gab die Natur ei-
nen großen Raum, die reiche weite Erde auf der die verschie-
densten Erdstriche und Lebensweisen die Menschen zerstreuen
sollten. Hier zog sie Berge, dort Ströme und Wüsten, da-
mit sie die Menschen auseinander brächte: den Jägern gab
sie den weiten Wald, den Fischern das weite Meer, den Hir-
ten die weite Ebne. Jhre Schuld ists also nicht, wenn Vö-
gel, betrogen von der Kunst des Vogelstellers in ein Netz flo-
gen, wo sie einander Speise und Augen weghacken und den
Athem verpesten: denn sie setzte den Vogel in die Luft und
nicht ins Netz des Voglers. Sehet jene wilden Stämme
an, wie unwilde sie unter sich leben! Da neidet keiner den an-
dern, da erwirbt sich und genießt jeder das Seine in Frieden.
Es ist gegen die Wahrheit der Geschichte, wenn man den
bösartigen, widersinnigen Charakter zusammengedrängter
Menschen, wetteifernder Künstler, streitender Politiker, nei-
diger Gelehrten zu allgemeinen Eigenschaften des menschlichen
Geschlechts macht; der größeste Theil der Menschen auf der
Erde weiß von diesen ritzenden Stacheln und ihren blutigen
Wunden nichts: er lebt in der freien Luft und nicht im ver-
pestenden Hauch der Städte. Wer das Gesetz nothwendig
macht, weil es sonst Gesetzesverächter gäbe, der setzt voraus,
was er erst beweisen sollte. Dränget die Menschen nicht in
enge Kerker: so dörft ihr ihnen keine frische Luft zufächeln.

Brin-

2. Dieſem divergirenden Geſchlecht gab die Natur ei-
nen großen Raum, die reiche weite Erde auf der die verſchie-
denſten Erdſtriche und Lebensweiſen die Menſchen zerſtreuen
ſollten. Hier zog ſie Berge, dort Stroͤme und Wuͤſten, da-
mit ſie die Menſchen auseinander braͤchte: den Jaͤgern gab
ſie den weiten Wald, den Fiſchern das weite Meer, den Hir-
ten die weite Ebne. Jhre Schuld iſts alſo nicht, wenn Voͤ-
gel, betrogen von der Kunſt des Vogelſtellers in ein Netz flo-
gen, wo ſie einander Speiſe und Augen weghacken und den
Athem verpeſten: denn ſie ſetzte den Vogel in die Luft und
nicht ins Netz des Voglers. Sehet jene wilden Staͤmme
an, wie unwilde ſie unter ſich leben! Da neidet keiner den an-
dern, da erwirbt ſich und genießt jeder das Seine in Frieden.
Es iſt gegen die Wahrheit der Geſchichte, wenn man den
boͤsartigen, widerſinnigen Charakter zuſammengedraͤngter
Menſchen, wetteifernder Kuͤnſtler, ſtreitender Politiker, nei-
diger Gelehrten zu allgemeinen Eigenſchaften des menſchlichen
Geſchlechts macht; der groͤßeſte Theil der Menſchen auf der
Erde weiß von dieſen ritzenden Stacheln und ihren blutigen
Wunden nichts: er lebt in der freien Luft und nicht im ver-
peſtenden Hauch der Staͤdte. Wer das Geſetz nothwendig
macht, weil es ſonſt Geſetzesveraͤchter gaͤbe, der ſetzt voraus,
was er erſt beweiſen ſollte. Draͤnget die Menſchen nicht in
enge Kerker: ſo doͤrft ihr ihnen keine friſche Luft zufaͤcheln.

Brin-
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[175/0187] 2. Dieſem divergirenden Geſchlecht gab die Natur ei- nen großen Raum, die reiche weite Erde auf der die verſchie- denſten Erdſtriche und Lebensweiſen die Menſchen zerſtreuen ſollten. Hier zog ſie Berge, dort Stroͤme und Wuͤſten, da- mit ſie die Menſchen auseinander braͤchte: den Jaͤgern gab ſie den weiten Wald, den Fiſchern das weite Meer, den Hir- ten die weite Ebne. Jhre Schuld iſts alſo nicht, wenn Voͤ- gel, betrogen von der Kunſt des Vogelſtellers in ein Netz flo- gen, wo ſie einander Speiſe und Augen weghacken und den Athem verpeſten: denn ſie ſetzte den Vogel in die Luft und nicht ins Netz des Voglers. Sehet jene wilden Staͤmme an, wie unwilde ſie unter ſich leben! Da neidet keiner den an- dern, da erwirbt ſich und genießt jeder das Seine in Frieden. Es iſt gegen die Wahrheit der Geſchichte, wenn man den boͤsartigen, widerſinnigen Charakter zuſammengedraͤngter Menſchen, wetteifernder Kuͤnſtler, ſtreitender Politiker, nei- diger Gelehrten zu allgemeinen Eigenſchaften des menſchlichen Geſchlechts macht; der groͤßeſte Theil der Menſchen auf der Erde weiß von dieſen ritzenden Stacheln und ihren blutigen Wunden nichts: er lebt in der freien Luft und nicht im ver- peſtenden Hauch der Staͤdte. Wer das Geſetz nothwendig macht, weil es ſonſt Geſetzesveraͤchter gaͤbe, der ſetzt voraus, was er erſt beweiſen ſollte. Draͤnget die Menſchen nicht in enge Kerker: ſo doͤrft ihr ihnen keine friſche Luft zufaͤcheln. Brin-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/187>, abgerufen am 22.12.2024.