Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

des Allseligen, der in Allem ist und sich in Allem freuet und
fühlet. Daher jene unzerstörbare Heiterkeit und Freude, die
mancher Europäer auf den Gesichtern und im Leben fremder
Völker bewunderte, weil er sie bei seiner unruhigen Rastlosig-
keit in sich nicht fühlte: daher auch jenes offene Wohlwollen,
jene zuvorkommende, zwanglose Gefälligkeit aller glücklichen
Völker der Erde, die nicht zur Rache oder Vertheidigung ge-
zwungen wurden. Nach den Berichten der Unpartheiischen
ist diese so allgemein ausgebreitet auf der Erde, daß ich sie den
Charakter der Menschheit nennen möchte, wenn es nicht leider
eben sowohl Charakter dieser zweideutigen Natur wäre, das
offne Wohlwollen, die dienstfertige Heiterkeit und Freude in
sich und andern einzuschränken, um sich aus Wahn oder aus
Vernunft gegen die künftige Noth zu waffnen. Ein in sich
glückliches Geschöpf, warum sollte es nicht auch andre glück-
liche neben sich sehen und wo es kann zu ihrer Glückseligkeit
beitragen? Nur weil wir selbst, mit Mangel umringt, so viel-
bedürftig sind und es durch unsre Kunst und List noch mehr
werden: so verenget sich unser Daseyn und die Wolke des
Argwohns, des Kummers, der Mühe und Sorgen umnebelt
ein Gesicht, das für die offne, Theilnehmende Freude gemacht
war. Jndeß auch hier hatte die Natur das menschliche Herz
in ihrer Hand und formte den fühlbaren Teig auf so mancher-
lei Arten, daß wo sie nicht gebend befriedigen konnte, sie we-

nigstens

des Allſeligen, der in Allem iſt und ſich in Allem freuet und
fuͤhlet. Daher jene unzerſtoͤrbare Heiterkeit und Freude, die
mancher Europaͤer auf den Geſichtern und im Leben fremder
Voͤlker bewunderte, weil er ſie bei ſeiner unruhigen Raſtloſig-
keit in ſich nicht fuͤhlte: daher auch jenes offene Wohlwollen,
jene zuvorkommende, zwangloſe Gefaͤlligkeit aller gluͤcklichen
Voͤlker der Erde, die nicht zur Rache oder Vertheidigung ge-
zwungen wurden. Nach den Berichten der Unpartheiiſchen
iſt dieſe ſo allgemein ausgebreitet auf der Erde, daß ich ſie den
Charakter der Menſchheit nennen moͤchte, wenn es nicht leider
eben ſowohl Charakter dieſer zweideutigen Natur waͤre, das
offne Wohlwollen, die dienſtfertige Heiterkeit und Freude in
ſich und andern einzuſchraͤnken, um ſich aus Wahn oder aus
Vernunft gegen die kuͤnftige Noth zu waffnen. Ein in ſich
gluͤckliches Geſchoͤpf, warum ſollte es nicht auch andre gluͤck-
liche neben ſich ſehen und wo es kann zu ihrer Gluͤckſeligkeit
beitragen? Nur weil wir ſelbſt, mit Mangel umringt, ſo viel-
beduͤrftig ſind und es durch unſre Kunſt und Liſt noch mehr
werden: ſo verenget ſich unſer Daſeyn und die Wolke des
Argwohns, des Kummers, der Muͤhe und Sorgen umnebelt
ein Geſicht, das fuͤr die offne, Theilnehmende Freude gemacht
war. Jndeß auch hier hatte die Natur das menſchliche Herz
in ihrer Hand und formte den fuͤhlbaren Teig auf ſo mancher-
lei Arten, daß wo ſie nicht gebend befriedigen konnte, ſie we-

nigſtens
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0212" n="200"/>
des All&#x017F;eligen, der in Allem i&#x017F;t und &#x017F;ich in Allem freuet und<lb/>
fu&#x0364;hlet. Daher jene unzer&#x017F;to&#x0364;rbare Heiterkeit und Freude, die<lb/>
mancher Europa&#x0364;er auf den Ge&#x017F;ichtern und im Leben fremder<lb/>
Vo&#x0364;lker bewunderte, weil er &#x017F;ie bei &#x017F;einer unruhigen Ra&#x017F;tlo&#x017F;ig-<lb/>
keit in &#x017F;ich nicht fu&#x0364;hlte: daher auch jenes offene Wohlwollen,<lb/>
jene zuvorkommende, zwanglo&#x017F;e Gefa&#x0364;lligkeit aller glu&#x0364;cklichen<lb/>
Vo&#x0364;lker der Erde, die nicht zur Rache oder Vertheidigung ge-<lb/>
zwungen wurden. Nach den Berichten der Unpartheii&#x017F;chen<lb/>
i&#x017F;t die&#x017F;e &#x017F;o allgemein ausgebreitet auf der Erde, daß ich &#x017F;ie den<lb/>
Charakter der Men&#x017F;chheit nennen mo&#x0364;chte, wenn es nicht leider<lb/>
eben &#x017F;owohl Charakter die&#x017F;er zweideutigen Natur wa&#x0364;re, das<lb/>
offne Wohlwollen, die dien&#x017F;tfertige Heiterkeit und Freude in<lb/>
&#x017F;ich und andern einzu&#x017F;chra&#x0364;nken, um &#x017F;ich aus Wahn oder aus<lb/>
Vernunft gegen die ku&#x0364;nftige Noth zu waffnen. Ein in &#x017F;ich<lb/>
glu&#x0364;ckliches Ge&#x017F;cho&#x0364;pf, warum &#x017F;ollte es nicht auch andre glu&#x0364;ck-<lb/>
liche neben &#x017F;ich &#x017F;ehen und wo es kann zu ihrer Glu&#x0364;ck&#x017F;eligkeit<lb/>
beitragen? Nur weil wir &#x017F;elb&#x017F;t, mit Mangel umringt, &#x017F;o viel-<lb/>
bedu&#x0364;rftig &#x017F;ind und es durch un&#x017F;re Kun&#x017F;t und Li&#x017F;t noch mehr<lb/>
werden: &#x017F;o verenget &#x017F;ich un&#x017F;er Da&#x017F;eyn und die Wolke des<lb/>
Argwohns, des Kummers, der Mu&#x0364;he und Sorgen umnebelt<lb/>
ein Ge&#x017F;icht, das fu&#x0364;r die offne, Theilnehmende Freude gemacht<lb/>
war. Jndeß auch hier hatte die Natur das men&#x017F;chliche Herz<lb/>
in ihrer Hand und formte den fu&#x0364;hlbaren Teig auf &#x017F;o mancher-<lb/>
lei Arten, daß wo &#x017F;ie nicht gebend befriedigen konnte, &#x017F;ie we-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nig&#x017F;tens</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0212] des Allſeligen, der in Allem iſt und ſich in Allem freuet und fuͤhlet. Daher jene unzerſtoͤrbare Heiterkeit und Freude, die mancher Europaͤer auf den Geſichtern und im Leben fremder Voͤlker bewunderte, weil er ſie bei ſeiner unruhigen Raſtloſig- keit in ſich nicht fuͤhlte: daher auch jenes offene Wohlwollen, jene zuvorkommende, zwangloſe Gefaͤlligkeit aller gluͤcklichen Voͤlker der Erde, die nicht zur Rache oder Vertheidigung ge- zwungen wurden. Nach den Berichten der Unpartheiiſchen iſt dieſe ſo allgemein ausgebreitet auf der Erde, daß ich ſie den Charakter der Menſchheit nennen moͤchte, wenn es nicht leider eben ſowohl Charakter dieſer zweideutigen Natur waͤre, das offne Wohlwollen, die dienſtfertige Heiterkeit und Freude in ſich und andern einzuſchraͤnken, um ſich aus Wahn oder aus Vernunft gegen die kuͤnftige Noth zu waffnen. Ein in ſich gluͤckliches Geſchoͤpf, warum ſollte es nicht auch andre gluͤck- liche neben ſich ſehen und wo es kann zu ihrer Gluͤckſeligkeit beitragen? Nur weil wir ſelbſt, mit Mangel umringt, ſo viel- beduͤrftig ſind und es durch unſre Kunſt und Liſt noch mehr werden: ſo verenget ſich unſer Daſeyn und die Wolke des Argwohns, des Kummers, der Muͤhe und Sorgen umnebelt ein Geſicht, das fuͤr die offne, Theilnehmende Freude gemacht war. Jndeß auch hier hatte die Natur das menſchliche Herz in ihrer Hand und formte den fuͤhlbaren Teig auf ſo mancher- lei Arten, daß wo ſie nicht gebend befriedigen konnte, ſie we- nigſtens

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/212
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/212>, abgerufen am 22.12.2024.