verschwemmet, weder sich noch andern tauget. Der Wilde, der sich, der sein Weib und Kind mit ruhiger Freude liebt und für seinen Stamm, wie für sein Leben, mit beschränkter Wirk- samkeit glühet, ist, wie mich dünkt, ein wahreres Wesen als je- ner gebildete Schatte, der für den Schatten seines ganzen Geschlechts d. i. für einen Namen, in Liebe entzückt ist. Jn seiner armen Hütte hat jener für jeden Fremden Raum, den er mit gleichgültiger Gutmüthigkeit als seinen Bruder auf- nimmt und ihn nicht einmal, wo er hersei? fraget. Das ver- schwemmte Herz des müßigen Kosmopoliten ist eine Hütte für Niemand.
Sehen wir denn nicht, meine Brüder, daß die Natur alles was sie konnte gethan habe, nicht um uns auszubreiten, sondern um uns einzuschränken und uns eben an den Umriß unsres Lebens zu gewöhnen? Unsre Sinne und Kräfte haben ein Maas: die Horen unsrer Tage und Lebensalter geben ein- ander nur wechselnd die Hände, damit die Ankommende die Verschwundne ablöse. Es ist also ein Trug der Phantasie, wenn der Mann und Greis sich noch zum Jünglinge träumet. Vollends jene Lüsternheit der Seele, die, selbst der Begierde zuvorkommend, sich Augenblicks in Eckel verwandelt, ist sie Paradieses-Lust oder vielmehr Tantalus Hölle, das ewige Schö- pfen der unsinnig-gequälten Danaiden? Deine einzige Kunst, o Mensch, hienieden ist also Maas: das Himmelskind, Freude, nach dem du verlangest, ist um dich, ist in dir, eine Tochter der
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verſchwemmet, weder ſich noch andern tauget. Der Wilde, der ſich, der ſein Weib und Kind mit ruhiger Freude liebt und fuͤr ſeinen Stamm, wie fuͤr ſein Leben, mit beſchraͤnkter Wirk- ſamkeit gluͤhet, iſt, wie mich duͤnkt, ein wahreres Weſen als je- ner gebildete Schatte, der fuͤr den Schatten ſeines ganzen Geſchlechts d. i. fuͤr einen Namen, in Liebe entzuͤckt iſt. Jn ſeiner armen Huͤtte hat jener fuͤr jeden Fremden Raum, den er mit gleichguͤltiger Gutmuͤthigkeit als ſeinen Bruder auf- nimmt und ihn nicht einmal, wo er herſei? fraget. Das ver- ſchwemmte Herz des muͤßigen Kosmopoliten iſt eine Huͤtte fuͤr Niemand.
Sehen wir denn nicht, meine Bruͤder, daß die Natur alles was ſie konnte gethan habe, nicht um uns auszubreiten, ſondern um uns einzuſchraͤnken und uns eben an den Umriß unſres Lebens zu gewoͤhnen? Unſre Sinne und Kraͤfte haben ein Maas: die Horen unſrer Tage und Lebensalter geben ein- ander nur wechſelnd die Haͤnde, damit die Ankommende die Verſchwundne abloͤſe. Es iſt alſo ein Trug der Phantaſie, wenn der Mann und Greis ſich noch zum Juͤnglinge traͤumet. Vollends jene Luͤſternheit der Seele, die, ſelbſt der Begierde zuvorkommend, ſich Augenblicks in Eckel verwandelt, iſt ſie Paradieſes-Luſt oder vielmehr Tantalus Hoͤlle, das ewige Schoͤ- pfen der unſinnig-gequaͤlten Danaiden? Deine einzige Kunſt, o Menſch, hienieden iſt alſo Maas: das Himmelskind, Freude, nach dem du verlangeſt, iſt um dich, iſt in dir, eine Tochter der
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verſchwemmet, weder ſich noch andern tauget. Der Wilde,
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Geſchlechts d. i. fuͤr einen Namen, in Liebe entzuͤckt iſt. Jn
ſeiner armen Huͤtte hat jener fuͤr jeden Fremden Raum, den
er mit gleichguͤltiger Gutmuͤthigkeit als ſeinen Bruder auf-
nimmt und ihn nicht einmal, wo er herſei? fraget. Das ver-
ſchwemmte Herz des muͤßigen Kosmopoliten iſt eine Huͤtte fuͤr
Niemand.
Sehen wir denn nicht, meine Bruͤder, daß die Natur
alles was ſie konnte gethan habe, nicht um uns auszubreiten,
ſondern um uns einzuſchraͤnken und uns eben an den Umriß
unſres Lebens zu gewoͤhnen? Unſre Sinne und Kraͤfte haben
ein Maas: die Horen unſrer Tage und Lebensalter geben ein-
ander nur wechſelnd die Haͤnde, damit die Ankommende die
Verſchwundne abloͤſe. Es iſt alſo ein Trug der Phantaſie,
wenn der Mann und Greis ſich noch zum Juͤnglinge traͤumet.
Vollends jene Luͤſternheit der Seele, die, ſelbſt der Begierde
zuvorkommend, ſich Augenblicks in Eckel verwandelt, iſt ſie
Paradieſes-Luſt oder vielmehr Tantalus Hoͤlle, das ewige Schoͤ-
pfen der unſinnig-gequaͤlten Danaiden? Deine einzige Kunſt,
o Menſch, hienieden iſt alſo Maas: das Himmelskind, Freude,
nach dem du verlangeſt, iſt um dich, iſt in dir, eine Tochter der
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/215>, abgerufen am 22.12.2024.
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