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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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zu einer fortgehenden Ausbreitung seiner Empfindungen und
Wirkungen, ja gar daß er für den Staat, als das Ziel sei-
nes Geschlechts und alle Generationen desselben eigentlich nur
für die letzte Generation gemacht seyn, die auf dem zerfallenen
Gerüst der Glückseligkeit aller vorhergehenden throne? Der
Anblick unsrer Mitbrüder auf der Erde, ja selbst die Erfahrung
jedes einzelnen Menschenlebens widerlegt diese der schaffenden
Vorsehung untergeschobenen Plane. Zu einer ins Unermeß-
liche wachsenden Fülle der Gedanken und der Empfindungen
ist weder unser Haupt, noch unser Herz gebildet; weder unsre
Hand gemacht, noch unser Leben berechnet. Blühen nicht
unsre schönsten Seelenkräfte ab, wie sie aufblühten? ja wech-
seln nicht mit Jahren und Zuständen sie selbst unter einander
und lösen im freundschaftlichen Zwist oder vielmehr in einem
kreisenden Reigentanz einander ab? Und wer hätte es nicht
erfahren, daß eine Grenzenlose Ausbreitung seiner Empfin-
dungen diese nur schwäche und vernichte? indem sie das, was
Seil der Liebe seyn soll, als eine vertheilte Flocke den Lüften
giebt oder mit seiner verbrannten Asche das Auge des Andern
benebelt. Da wir unmöglich andre mehr oder anders, als uns
selbst lieben können: denn wir lieben sie nur als Theile unser
selbst oder vielmehr uns selbst in ihnen; so ist allerdings die
Seele glücklich, die wie ein höherer Geist mit ihrer Wirksam-
keit viel umfasset und es in rastloser Wohlthätigkeit zu ihr
Selbst zählet; elend ist aber die andre, deren Gefühl in Worte

ver-

zu einer fortgehenden Ausbreitung ſeiner Empfindungen und
Wirkungen, ja gar daß er fuͤr den Staat, als das Ziel ſei-
nes Geſchlechts und alle Generationen deſſelben eigentlich nur
fuͤr die letzte Generation gemacht ſeyn, die auf dem zerfallenen
Geruͤſt der Gluͤckſeligkeit aller vorhergehenden throne? Der
Anblick unſrer Mitbruͤder auf der Erde, ja ſelbſt die Erfahrung
jedes einzelnen Menſchenlebens widerlegt dieſe der ſchaffenden
Vorſehung untergeſchobenen Plane. Zu einer ins Unermeß-
liche wachſenden Fuͤlle der Gedanken und der Empfindungen
iſt weder unſer Haupt, noch unſer Herz gebildet; weder unſre
Hand gemacht, noch unſer Leben berechnet. Bluͤhen nicht
unſre ſchoͤnſten Seelenkraͤfte ab, wie ſie aufbluͤhten? ja wech-
ſeln nicht mit Jahren und Zuſtaͤnden ſie ſelbſt unter einander
und loͤſen im freundſchaftlichen Zwiſt oder vielmehr in einem
kreiſenden Reigentanz einander ab? Und wer haͤtte es nicht
erfahren, daß eine Grenzenloſe Ausbreitung ſeiner Empfin-
dungen dieſe nur ſchwaͤche und vernichte? indem ſie das, was
Seil der Liebe ſeyn ſoll, als eine vertheilte Flocke den Luͤften
giebt oder mit ſeiner verbrannten Aſche das Auge des Andern
benebelt. Da wir unmoͤglich andre mehr oder anders, als uns
ſelbſt lieben koͤnnen: denn wir lieben ſie nur als Theile unſer
ſelbſt oder vielmehr uns ſelbſt in ihnen; ſo iſt allerdings die
Seele gluͤcklich, die wie ein hoͤherer Geiſt mit ihrer Wirkſam-
keit viel umfaſſet und es in raſtloſer Wohlthaͤtigkeit zu ihr
Selbſt zaͤhlet; elend iſt aber die andre, deren Gefuͤhl in Worte

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[202/0214] zu einer fortgehenden Ausbreitung ſeiner Empfindungen und Wirkungen, ja gar daß er fuͤr den Staat, als das Ziel ſei- nes Geſchlechts und alle Generationen deſſelben eigentlich nur fuͤr die letzte Generation gemacht ſeyn, die auf dem zerfallenen Geruͤſt der Gluͤckſeligkeit aller vorhergehenden throne? Der Anblick unſrer Mitbruͤder auf der Erde, ja ſelbſt die Erfahrung jedes einzelnen Menſchenlebens widerlegt dieſe der ſchaffenden Vorſehung untergeſchobenen Plane. Zu einer ins Unermeß- liche wachſenden Fuͤlle der Gedanken und der Empfindungen iſt weder unſer Haupt, noch unſer Herz gebildet; weder unſre Hand gemacht, noch unſer Leben berechnet. Bluͤhen nicht unſre ſchoͤnſten Seelenkraͤfte ab, wie ſie aufbluͤhten? ja wech- ſeln nicht mit Jahren und Zuſtaͤnden ſie ſelbſt unter einander und loͤſen im freundſchaftlichen Zwiſt oder vielmehr in einem kreiſenden Reigentanz einander ab? Und wer haͤtte es nicht erfahren, daß eine Grenzenloſe Ausbreitung ſeiner Empfin- dungen dieſe nur ſchwaͤche und vernichte? indem ſie das, was Seil der Liebe ſeyn ſoll, als eine vertheilte Flocke den Luͤften giebt oder mit ſeiner verbrannten Aſche das Auge des Andern benebelt. Da wir unmoͤglich andre mehr oder anders, als uns ſelbſt lieben koͤnnen: denn wir lieben ſie nur als Theile unſer ſelbſt oder vielmehr uns ſelbſt in ihnen; ſo iſt allerdings die Seele gluͤcklich, die wie ein hoͤherer Geiſt mit ihrer Wirkſam- keit viel umfaſſet und es in raſtloſer Wohlthaͤtigkeit zu ihr Selbſt zaͤhlet; elend iſt aber die andre, deren Gefuͤhl in Worte ver-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/214>, abgerufen am 22.12.2024.