Kreise. Nicht für die reine Anschauung, die entweder ein Trug ist, weil kein Mensch das Jnnere der Sachen siehet oder die wenigstens, da sie keine Merkmale und Worte zuläßt, ganz unmittheilbar bleibet. Kaum vermag der Anschauende den andern auf den Weg zu führen, auf dem Er zu seinen un- nennbaren Schätzen gelangte und muß es ihm selbst und sei- nem Genius überlassen, wiefern auch Er dieser Anschauun- gen theilhaftig werde. Nothwendig wird hiemit eine Pforte zu tausend vergeblichen Quaalen des Geistes und zu unzähli- chen Arten des listigen Betruges eröfnet, wie die Geschichte aller Völker zeiget. Zur Speculation kann der Mensch eben so wenig geschaffen seyn, da sie ihrer Genesis und Mitthei- lung nach nicht vollkommener ist und nur zu bald die Köpfe der Nachbeter mit tauben Worten erfüllet. Ja wenn sich diese beide Extreme, Spekulation und Anschauung gar gesellen wol- len, und der metaphysische Schwärmer auf eine Wortlose Vernunft voll Anschauungen weiset: armes Menschenge- schlecht, so schwebst du gar im Raum der Undinge zwischen kalter Hitze und warmer Kälte. Durch die Sprache hat uns die Gottheit auf einen sicherern, den Mittelweg geführet. Nur Verstandesideen sinds, die wir durch sie erlangen und die zum Genuß der Natur, zu Anwendung unsrer Kräfte, zum gesunden Gebrauch unsres Lebens, kurz zu Bildung der Humanität in uns gnug sind. Nicht Aether sollen wir ath-
men,
Kreiſe. Nicht fuͤr die reine Anſchauung, die entweder ein Trug iſt, weil kein Menſch das Jnnere der Sachen ſiehet oder die wenigſtens, da ſie keine Merkmale und Worte zulaͤßt, ganz unmittheilbar bleibet. Kaum vermag der Anſchauende den andern auf den Weg zu fuͤhren, auf dem Er zu ſeinen un- nennbaren Schaͤtzen gelangte und muß es ihm ſelbſt und ſei- nem Genius uͤberlaſſen, wiefern auch Er dieſer Anſchauun- gen theilhaftig werde. Nothwendig wird hiemit eine Pforte zu tauſend vergeblichen Quaalen des Geiſtes und zu unzaͤhli- chen Arten des liſtigen Betruges eroͤfnet, wie die Geſchichte aller Voͤlker zeiget. Zur Speculation kann der Menſch eben ſo wenig geſchaffen ſeyn, da ſie ihrer Geneſis und Mitthei- lung nach nicht vollkommener iſt und nur zu bald die Koͤpfe der Nachbeter mit tauben Worten erfuͤllet. Ja wenn ſich dieſe beide Extreme, Spekulation und Anſchauung gar geſellen wol- len, und der metaphyſiſche Schwaͤrmer auf eine Wortloſe Vernunft voll Anſchauungen weiſet: armes Menſchenge- ſchlecht, ſo ſchwebſt du gar im Raum der Undinge zwiſchen kalter Hitze und warmer Kaͤlte. Durch die Sprache hat uns die Gottheit auf einen ſicherern, den Mittelweg gefuͤhret. Nur Verſtandesideen ſinds, die wir durch ſie erlangen und die zum Genuß der Natur, zu Anwendung unſrer Kraͤfte, zum geſunden Gebrauch unſres Lebens, kurz zu Bildung der Humanitaͤt in uns gnug ſind. Nicht Aether ſollen wir ath-
men,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0244"n="232"/>
Kreiſe. Nicht fuͤr die reine Anſchauung, die entweder ein<lb/>
Trug iſt, weil kein Menſch das Jnnere der Sachen ſiehet oder<lb/>
die wenigſtens, da ſie keine Merkmale und Worte zulaͤßt,<lb/>
ganz unmittheilbar bleibet. Kaum vermag der Anſchauende<lb/>
den andern auf den Weg zu fuͤhren, auf dem Er zu ſeinen un-<lb/>
nennbaren Schaͤtzen gelangte und muß es ihm ſelbſt und ſei-<lb/>
nem Genius uͤberlaſſen, wiefern auch Er dieſer Anſchauun-<lb/>
gen theilhaftig werde. Nothwendig wird hiemit eine Pforte<lb/>
zu tauſend vergeblichen Quaalen des Geiſtes und zu unzaͤhli-<lb/>
chen Arten des liſtigen Betruges eroͤfnet, wie die Geſchichte<lb/>
aller Voͤlker zeiget. Zur Speculation kann der Menſch eben<lb/>ſo wenig geſchaffen ſeyn, da ſie ihrer Geneſis und Mitthei-<lb/>
lung nach nicht vollkommener iſt und nur zu bald die Koͤpfe der<lb/>
Nachbeter mit tauben Worten erfuͤllet. Ja wenn ſich dieſe<lb/>
beide Extreme, Spekulation und Anſchauung gar geſellen wol-<lb/>
len, und der metaphyſiſche Schwaͤrmer auf eine Wortloſe<lb/>
Vernunft voll Anſchauungen weiſet: armes Menſchenge-<lb/>ſchlecht, ſo ſchwebſt du gar im Raum der Undinge zwiſchen<lb/>
kalter Hitze und warmer Kaͤlte. Durch die Sprache hat uns<lb/>
die Gottheit auf einen ſicherern, den Mittelweg gefuͤhret.<lb/>
Nur Verſtandesideen ſinds, die wir durch ſie erlangen und<lb/>
die zum Genuß der Natur, zu Anwendung unſrer Kraͤfte,<lb/>
zum geſunden Gebrauch unſres Lebens, kurz zu Bildung der<lb/>
Humanitaͤt in uns gnug ſind. Nicht Aether ſollen wir ath-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">men,</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[232/0244]
Kreiſe. Nicht fuͤr die reine Anſchauung, die entweder ein
Trug iſt, weil kein Menſch das Jnnere der Sachen ſiehet oder
die wenigſtens, da ſie keine Merkmale und Worte zulaͤßt,
ganz unmittheilbar bleibet. Kaum vermag der Anſchauende
den andern auf den Weg zu fuͤhren, auf dem Er zu ſeinen un-
nennbaren Schaͤtzen gelangte und muß es ihm ſelbſt und ſei-
nem Genius uͤberlaſſen, wiefern auch Er dieſer Anſchauun-
gen theilhaftig werde. Nothwendig wird hiemit eine Pforte
zu tauſend vergeblichen Quaalen des Geiſtes und zu unzaͤhli-
chen Arten des liſtigen Betruges eroͤfnet, wie die Geſchichte
aller Voͤlker zeiget. Zur Speculation kann der Menſch eben
ſo wenig geſchaffen ſeyn, da ſie ihrer Geneſis und Mitthei-
lung nach nicht vollkommener iſt und nur zu bald die Koͤpfe der
Nachbeter mit tauben Worten erfuͤllet. Ja wenn ſich dieſe
beide Extreme, Spekulation und Anſchauung gar geſellen wol-
len, und der metaphyſiſche Schwaͤrmer auf eine Wortloſe
Vernunft voll Anſchauungen weiſet: armes Menſchenge-
ſchlecht, ſo ſchwebſt du gar im Raum der Undinge zwiſchen
kalter Hitze und warmer Kaͤlte. Durch die Sprache hat uns
die Gottheit auf einen ſicherern, den Mittelweg gefuͤhret.
Nur Verſtandesideen ſinds, die wir durch ſie erlangen und
die zum Genuß der Natur, zu Anwendung unſrer Kraͤfte,
zum geſunden Gebrauch unſres Lebens, kurz zu Bildung der
Humanitaͤt in uns gnug ſind. Nicht Aether ſollen wir ath-
men,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/244>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.