Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

selbst, vielmehr den Fremdlingen unverständlich. Die bedeu-
tenden heiligen Symbole jedes Volks, so klimatisch und na-
tional sie seyn mochten, wurden nämlich oft in wenigen Ge-
schlechtern ohne Bedeutung. Kein Wunder: denn jeder
Sprache, jedem Jnstitut mit willkührlichen Zeichen müste es
so ergehen, wenn sie nicht durch den lebendigen Gebrauch mit
ihren Gegenständen oft zusammengehalten würden und also
im bedeutenden Andenken blieben. Bei der Religion war
solche lebendige Zusammenhaltung schwer oder unmöglich:
denn das Zeichen betraf entweder eine unsichtbare Jdee oder
eine vergangene Geschichte.

Es konnte also auch nicht fehlen, daß die Priester, die
ursprünglich Weise der Nation waren, nicht immer
ihre Weisen blieben.
Sobald sie nämlich den Sinn des
Symbols verlohren, waren sie stumme Diener der Abgötterei
oder musten redende Lügner des Aberglaubens werden. Und
sie sinds fast allenthalben reichlich geworden; nicht aus vor-
züglicher Betrugsucht, sondern weil es die Sache so mit sich
führte. Sowohl in der Sprache, als in jeder Wissenschaft,
Kunst und Einrichtung waltet dasselbe Schicksal: der Unwis-
sende, der reden oder die Kunst fortsetzen soll, muß verbergen,
muß erdichten, muß heucheln; ein falscher Schein tritt an die
Stelle der verlohrnen Wahrheit. Dies ist die Geschichte

aller
L l 2

ſelbſt, vielmehr den Fremdlingen unverſtaͤndlich. Die bedeu-
tenden heiligen Symbole jedes Volks, ſo klimatiſch und na-
tional ſie ſeyn mochten, wurden naͤmlich oft in wenigen Ge-
ſchlechtern ohne Bedeutung. Kein Wunder: denn jeder
Sprache, jedem Jnſtitut mit willkuͤhrlichen Zeichen muͤſte es
ſo ergehen, wenn ſie nicht durch den lebendigen Gebrauch mit
ihren Gegenſtaͤnden oft zuſammengehalten wuͤrden und alſo
im bedeutenden Andenken blieben. Bei der Religion war
ſolche lebendige Zuſammenhaltung ſchwer oder unmoͤglich:
denn das Zeichen betraf entweder eine unſichtbare Jdee oder
eine vergangene Geſchichte.

Es konnte alſo auch nicht fehlen, daß die Prieſter, die
urſpruͤnglich Weiſe der Nation waren, nicht immer
ihre Weiſen blieben.
Sobald ſie naͤmlich den Sinn des
Symbols verlohren, waren ſie ſtumme Diener der Abgoͤtterei
oder muſten redende Luͤgner des Aberglaubens werden. Und
ſie ſinds faſt allenthalben reichlich geworden; nicht aus vor-
zuͤglicher Betrugſucht, ſondern weil es die Sache ſo mit ſich
fuͤhrte. Sowohl in der Sprache, als in jeder Wiſſenſchaft,
Kunſt und Einrichtung waltet daſſelbe Schickſal: der Unwiſ-
ſende, der reden oder die Kunſt fortſetzen ſoll, muß verbergen,
muß erdichten, muß heucheln; ein falſcher Schein tritt an die
Stelle der verlohrnen Wahrheit. Dies iſt die Geſchichte

aller
L l 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0279" n="267"/>
&#x017F;elb&#x017F;t, vielmehr den Fremdlingen unver&#x017F;ta&#x0364;ndlich. Die bedeu-<lb/>
tenden heiligen Symbole jedes Volks, &#x017F;o klimati&#x017F;ch und na-<lb/>
tional &#x017F;ie &#x017F;eyn mochten, wurden na&#x0364;mlich oft in wenigen Ge-<lb/>
&#x017F;chlechtern ohne Bedeutung. Kein Wunder: denn jeder<lb/>
Sprache, jedem Jn&#x017F;titut mit willku&#x0364;hrlichen Zeichen mu&#x0364;&#x017F;te es<lb/>
&#x017F;o ergehen, wenn &#x017F;ie nicht durch den lebendigen Gebrauch mit<lb/>
ihren Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden oft zu&#x017F;ammengehalten wu&#x0364;rden und al&#x017F;o<lb/>
im bedeutenden Andenken blieben. Bei der Religion war<lb/>
&#x017F;olche lebendige Zu&#x017F;ammenhaltung &#x017F;chwer oder unmo&#x0364;glich:<lb/>
denn das Zeichen betraf entweder eine un&#x017F;ichtbare Jdee oder<lb/>
eine vergangene Ge&#x017F;chichte.</p><lb/>
          <p>Es konnte al&#x017F;o auch nicht fehlen, daß <hi rendition="#fr">die Prie&#x017F;ter, die<lb/>
ur&#x017F;pru&#x0364;nglich Wei&#x017F;e der Nation waren, nicht immer<lb/>
ihre Wei&#x017F;en blieben.</hi> Sobald &#x017F;ie na&#x0364;mlich den Sinn des<lb/>
Symbols verlohren, waren &#x017F;ie &#x017F;tumme Diener der Abgo&#x0364;tterei<lb/>
oder mu&#x017F;ten redende Lu&#x0364;gner des Aberglaubens werden. Und<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;inds fa&#x017F;t allenthalben reichlich geworden; nicht aus vor-<lb/>
zu&#x0364;glicher Betrug&#x017F;ucht, &#x017F;ondern weil es die Sache &#x017F;o mit &#x017F;ich<lb/>
fu&#x0364;hrte. Sowohl in der Sprache, als in jeder Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft,<lb/>
Kun&#x017F;t und Einrichtung waltet da&#x017F;&#x017F;elbe Schick&#x017F;al: der Unwi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ende, der reden oder die Kun&#x017F;t fort&#x017F;etzen &#x017F;oll, muß verbergen,<lb/>
muß erdichten, muß heucheln; ein fal&#x017F;cher Schein tritt an die<lb/>
Stelle der verlohrnen Wahrheit. Dies i&#x017F;t die <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;chichte</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L l 2</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">aller</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[267/0279] ſelbſt, vielmehr den Fremdlingen unverſtaͤndlich. Die bedeu- tenden heiligen Symbole jedes Volks, ſo klimatiſch und na- tional ſie ſeyn mochten, wurden naͤmlich oft in wenigen Ge- ſchlechtern ohne Bedeutung. Kein Wunder: denn jeder Sprache, jedem Jnſtitut mit willkuͤhrlichen Zeichen muͤſte es ſo ergehen, wenn ſie nicht durch den lebendigen Gebrauch mit ihren Gegenſtaͤnden oft zuſammengehalten wuͤrden und alſo im bedeutenden Andenken blieben. Bei der Religion war ſolche lebendige Zuſammenhaltung ſchwer oder unmoͤglich: denn das Zeichen betraf entweder eine unſichtbare Jdee oder eine vergangene Geſchichte. Es konnte alſo auch nicht fehlen, daß die Prieſter, die urſpruͤnglich Weiſe der Nation waren, nicht immer ihre Weiſen blieben. Sobald ſie naͤmlich den Sinn des Symbols verlohren, waren ſie ſtumme Diener der Abgoͤtterei oder muſten redende Luͤgner des Aberglaubens werden. Und ſie ſinds faſt allenthalben reichlich geworden; nicht aus vor- zuͤglicher Betrugſucht, ſondern weil es die Sache ſo mit ſich fuͤhrte. Sowohl in der Sprache, als in jeder Wiſſenſchaft, Kunſt und Einrichtung waltet daſſelbe Schickſal: der Unwiſ- ſende, der reden oder die Kunſt fortſetzen ſoll, muß verbergen, muß erdichten, muß heucheln; ein falſcher Schein tritt an die Stelle der verlohrnen Wahrheit. Dies iſt die Geſchichte aller L l 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/279
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/279>, abgerufen am 22.12.2024.