Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

"Das lebhafteste Vergnügen, das ein
vernünftiger Mensch in der Welt haben
kann, ist neue Wahrheiten zu entdecken;
das nächste nach diesem ist, alter Vorur-
theile los zu werden.


"Die meisten Prinzen haben eine besondre
Leidenschaft für die Stammbäume; eine Art
Eigenliebe, die bis auf die entferntsten Vor-
fahren hinaufsteigt, ja die sie nicht nur für
Vorfahren in gerader, sondern auch in
jeder Seitenlinie intereßiret. Ihnen sagen,
daß unter ihren Ahnen schlechte, mithin
verächtliche Menschen gewesen, hieße ihnen
ein Schimpf, den sie nie verzeihen; und
wehe dem profanen Autor, der in das
Heiligthum ihrer Geschichte verwegen drän-
ge, und die Schande ihres Hauses unter

F 5

„Das lebhafteſte Vergnuͤgen, das ein
vernuͤnftiger Menſch in der Welt haben
kann, iſt neue Wahrheiten zu entdecken;
das naͤchſte nach dieſem iſt, alter Vorur-
theile los zu werden.


„Die meiſten Prinzen haben eine beſondre
Leidenſchaft fuͤr die Stammbaͤume; eine Art
Eigenliebe, die bis auf die entferntſten Vor-
fahren hinaufſteigt, ja die ſie nicht nur fuͤr
Vorfahren in gerader, ſondern auch in
jeder Seitenlinie intereßiret. Ihnen ſagen,
daß unter ihren Ahnen ſchlechte, mithin
veraͤchtliche Menſchen geweſen, hieße ihnen
ein Schimpf, den ſie nie verzeihen; und
wehe dem profanen Autor, der in das
Heiligthum ihrer Geſchichte verwegen draͤn-
ge, und die Schande ihres Hauſes unter

F 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0096" n="89"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>&#x201E;Das lebhafte&#x017F;te Vergnu&#x0364;gen, das ein<lb/>
vernu&#x0364;nftiger Men&#x017F;ch in der Welt haben<lb/>
kann, i&#x017F;t neue Wahrheiten zu entdecken;<lb/>
das na&#x0364;ch&#x017F;te nach die&#x017F;em i&#x017F;t, alter Vorur-<lb/>
theile los zu werden.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>&#x201E;Die mei&#x017F;ten Prinzen haben eine be&#x017F;ondre<lb/>
Leiden&#x017F;chaft fu&#x0364;r die Stammba&#x0364;ume; eine Art<lb/>
Eigenliebe, die bis auf die entfernt&#x017F;ten Vor-<lb/>
fahren hinauf&#x017F;teigt, ja die &#x017F;ie nicht nur fu&#x0364;r<lb/>
Vorfahren in gerader, &#x017F;ondern auch in<lb/>
jeder Seitenlinie intereßiret. Ihnen &#x017F;agen,<lb/>
daß unter ihren Ahnen &#x017F;chlechte, mithin<lb/>
vera&#x0364;chtliche Men&#x017F;chen gewe&#x017F;en, hieße ihnen<lb/>
ein Schimpf, den &#x017F;ie nie verzeihen; und<lb/>
wehe dem profanen Autor, der in das<lb/>
Heiligthum ihrer Ge&#x017F;chichte verwegen dra&#x0364;n-<lb/>
ge, und die Schande ihres Hau&#x017F;es unter<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F 5</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[89/0096] „Das lebhafteſte Vergnuͤgen, das ein vernuͤnftiger Menſch in der Welt haben kann, iſt neue Wahrheiten zu entdecken; das naͤchſte nach dieſem iſt, alter Vorur- theile los zu werden. „Die meiſten Prinzen haben eine beſondre Leidenſchaft fuͤr die Stammbaͤume; eine Art Eigenliebe, die bis auf die entferntſten Vor- fahren hinaufſteigt, ja die ſie nicht nur fuͤr Vorfahren in gerader, ſondern auch in jeder Seitenlinie intereßiret. Ihnen ſagen, daß unter ihren Ahnen ſchlechte, mithin veraͤchtliche Menſchen geweſen, hieße ihnen ein Schimpf, den ſie nie verzeihen; und wehe dem profanen Autor, der in das Heiligthum ihrer Geſchichte verwegen draͤn- ge, und die Schande ihres Hauſes unter F 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793/96
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga, 1793, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793/96>, abgerufen am 21.11.2024.