Das Gebiet des Wahnes erstreckt sich insonderheit auf Dinge, die den Menschen zunächst angehen, auf seine Person und Gestalt, auf seinen Stand, seine Nation, seinen Zweck und Charakter. Wie es z. B. Personen giebt, die im Innern ein ganz anderes Bild von sich umhertragen, als die sie sind; sie erschrecken vor ihrer äu- ßern Gestalt im Spiegel als vor der Ge- stalt eines fremden Wesens; so giebt es deren noch weit mehrere, die in Ansehung ihres Innern ein fremdes Bild mit sich tragen. Ein berühmter König unsres Jahr- hunderts war in seiner Phantasie immer nur Oberster eines Regiments, und wars mit Lust; alle königliche Pflichten erfüllte er als eine fremde Person, als ein stren- ger Amtmann. Unzähliche Wunderlichkei- ten flossen daher, die ohne dies Bild einer fremden, ihm einwohnenden Wahngestalt
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Das Gebiet des Wahnes erſtreckt ſich inſonderheit auf Dinge, die den Menſchen zunaͤchſt angehen, auf ſeine Perſon und Geſtalt, auf ſeinen Stand, ſeine Nation, ſeinen Zweck und Charakter. Wie es z. B. Perſonen giebt, die im Innern ein ganz anderes Bild von ſich umhertragen, als die ſie ſind; ſie erſchrecken vor ihrer aͤu- ßern Geſtalt im Spiegel als vor der Ge- ſtalt eines fremden Weſens; ſo giebt es deren noch weit mehrere, die in Anſehung ihres Innern ein fremdes Bild mit ſich tragen. Ein beruͤhmter Koͤnig unſres Jahr- hunderts war in ſeiner Phantaſie immer nur Oberſter eines Regiments, und wars mit Luſt; alle koͤnigliche Pflichten erfuͤllte er als eine fremde Perſon, als ein ſtren- ger Amtmann. Unzaͤhliche Wunderlichkei- ten floſſen daher, die ohne dies Bild einer fremden, ihm einwohnenden Wahngeſtalt
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Das Gebiet des Wahnes erſtreckt ſich
inſonderheit auf Dinge, die den Menſchen
zunaͤchſt angehen, auf ſeine Perſon und
Geſtalt, auf ſeinen Stand, ſeine Nation,
ſeinen Zweck und Charakter. Wie es z. B.
Perſonen giebt, die im Innern ein ganz
anderes Bild von ſich umhertragen, als
die ſie ſind; ſie erſchrecken vor ihrer aͤu-
ßern Geſtalt im Spiegel als vor der Ge-
ſtalt eines fremden Weſens; ſo giebt es
deren noch weit mehrere, die in Anſehung
ihres Innern ein fremdes Bild mit ſich
tragen. Ein beruͤhmter Koͤnig unſres Jahr-
hunderts war in ſeiner Phantaſie immer
nur Oberſter eines Regiments, und wars
mit Luſt; alle koͤnigliche Pflichten erfuͤllte
er als eine fremde Perſon, als ein ſtren-
ger Amtmann. Unzaͤhliche Wunderlichkei-
ten floſſen daher, die ohne dies Bild einer
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794/90>, abgerufen am 16.02.2025.
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