sie sind Abdrücke von der eigensten Beschaf- fenheit des Körpers und der Seele des Wähnenden, samt den Situationen, die vorzüglich auf ihn wirkten, kurz, beve- stigte Luftgebilde seiner frühen Jugend. Daher sind sie theoretisch oder praktisch; selten aber eins ohne das an- dre. Denn der Mensch ist nie so vergnügt, als wenn er nach Wahn handeln kann, zumal nach einem von andern verdammten, von ihm selbst geformten, Lieblingswahne. Da lebt er recht in seinem Element und ist seiner Kunst Meister.
Sie merken leicht, m. H., in welchen Ständen diese Wahnbilder am sichtbarsten seyn müssen; in solchen nämlich, die sich am freiesten äußern dürfen. Wer vor an- dern Scheu haben, wer aus Beruf und Noth auf dem gebahnten Wege angenom- mener Meinungen oder richtiger Begriffe
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ſie ſind Abdruͤcke von der eigenſten Beſchaf- fenheit des Koͤrpers und der Seele des Waͤhnenden, ſamt den Situationen, die vorzuͤglich auf ihn wirkten, kurz, beve- ſtigte Luftgebilde ſeiner fruͤhen Jugend. Daher ſind ſie theoretiſch oder praktiſch; ſelten aber eins ohne das an- dre. Denn der Menſch iſt nie ſo vergnuͤgt, als wenn er nach Wahn handeln kann, zumal nach einem von andern verdammten, von ihm ſelbſt geformten, Lieblingswahne. Da lebt er recht in ſeinem Element und iſt ſeiner Kunſt Meiſter.
Sie merken leicht, m. H., in welchen Staͤnden dieſe Wahnbilder am ſichtbarſten ſeyn muͤſſen; in ſolchen naͤmlich, die ſich am freieſten aͤußern duͤrfen. Wer vor an- dern Scheu haben, wer aus Beruf und Noth auf dem gebahnten Wege angenom- mener Meinungen oder richtiger Begriffe
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ſie ſind Abdruͤcke von der eigenſten Beſchaf-
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Waͤhnenden, ſamt den Situationen, die
vorzuͤglich auf ihn wirkten, kurz, beve-
ſtigte Luftgebilde ſeiner fruͤhen
Jugend. Daher ſind ſie theoretiſch oder
praktiſch; ſelten aber eins ohne das an-
dre. Denn der Menſch iſt nie ſo vergnuͤgt,
als wenn er nach Wahn handeln kann,
zumal nach einem von andern verdammten,
von ihm ſelbſt geformten, Lieblingswahne.
Da lebt er recht in ſeinem Element und
iſt ſeiner Kunſt Meiſter.
Sie merken leicht, m. H., in welchen
Staͤnden dieſe Wahnbilder am ſichtbarſten
ſeyn muͤſſen; in ſolchen naͤmlich, die ſich
am freieſten aͤußern duͤrfen. Wer vor an-
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794/92>, abgerufen am 16.02.2025.
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