sonderbare Wahngestalten im Kopf, die sie gewöhnlich andern aufzwingen wollten, und damit oft zum Ziele kamen.
Denn leider ist bekannt, daß es fast nichts ansteckenderes in der Welt als Wahn und Wahnsinn gebe. Die Wahrheit muß man durch Gründe mühsam erforschen; den Wahn nimmt man durch Nachahmung, oft unvermerkt, aus Gefälligkeit, durch das bloße Zusammenseyn mit dem Wähnenden, durch Theilnehmung an seinen übrigen gu- ten Gesinnungen, auf guten Glauben an. Wahn theilt sich mit, wie sich das Gäh- nen mittheilt, wie Gesichtszüge und Stim- mungen in uns übergehen, wie Eine Saite der andern harmonisch antwortet. Kommt nun noch die Bestrebsamkeit des Wähnen- den dazu, uns die Lieblingsmeinungen sei- ner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen, und er weiß sich dabei recht zu nehmen;
F 5
ſonderbare Wahngeſtalten im Kopf, die ſie gewoͤhnlich andern aufzwingen wollten, und damit oft zum Ziele kamen.
Denn leider iſt bekannt, daß es faſt nichts anſteckenderes in der Welt als Wahn und Wahnſinn gebe. Die Wahrheit muß man durch Gruͤnde muͤhſam erforſchen; den Wahn nimmt man durch Nachahmung, oft unvermerkt, aus Gefaͤlligkeit, durch das bloße Zuſammenſeyn mit dem Waͤhnenden, durch Theilnehmung an ſeinen uͤbrigen gu- ten Geſinnungen, auf guten Glauben an. Wahn theilt ſich mit, wie ſich das Gaͤh- nen mittheilt, wie Geſichtszuͤge und Stim- mungen in uns uͤbergehen, wie Eine Saite der andern harmoniſch antwortet. Kommt nun noch die Beſtrebſamkeit des Waͤhnen- den dazu, uns die Lieblingsmeinungen ſei- ner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen, und er weiß ſich dabei recht zu nehmen;
F 5
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0094"n="89"/>ſonderbare Wahngeſtalten im Kopf, die ſie<lb/>
gewoͤhnlich andern aufzwingen wollten, und<lb/>
damit oft zum Ziele kamen.</p><lb/><p>Denn leider iſt bekannt, daß es faſt<lb/>
nichts anſteckenderes in der Welt als Wahn<lb/>
und Wahnſinn gebe. Die Wahrheit muß<lb/>
man durch Gruͤnde muͤhſam erforſchen;<lb/>
den Wahn nimmt man durch Nachahmung,<lb/>
oft unvermerkt, aus Gefaͤlligkeit, durch das<lb/>
bloße Zuſammenſeyn mit dem Waͤhnenden,<lb/>
durch Theilnehmung an ſeinen uͤbrigen gu-<lb/>
ten Geſinnungen, auf guten Glauben an.<lb/>
Wahn theilt ſich mit, wie ſich das Gaͤh-<lb/>
nen mittheilt, wie Geſichtszuͤge und Stim-<lb/>
mungen in uns uͤbergehen, wie Eine Saite<lb/>
der andern harmoniſch antwortet. Kommt<lb/>
nun noch die Beſtrebſamkeit des Waͤhnen-<lb/>
den dazu, uns die Lieblingsmeinungen ſei-<lb/>
ner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen,<lb/>
und er weiß ſich dabei recht zu nehmen;<lb/><fwplace="bottom"type="sig">F 5</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[89/0094]
ſonderbare Wahngeſtalten im Kopf, die ſie
gewoͤhnlich andern aufzwingen wollten, und
damit oft zum Ziele kamen.
Denn leider iſt bekannt, daß es faſt
nichts anſteckenderes in der Welt als Wahn
und Wahnſinn gebe. Die Wahrheit muß
man durch Gruͤnde muͤhſam erforſchen;
den Wahn nimmt man durch Nachahmung,
oft unvermerkt, aus Gefaͤlligkeit, durch das
bloße Zuſammenſeyn mit dem Waͤhnenden,
durch Theilnehmung an ſeinen uͤbrigen gu-
ten Geſinnungen, auf guten Glauben an.
Wahn theilt ſich mit, wie ſich das Gaͤh-
nen mittheilt, wie Geſichtszuͤge und Stim-
mungen in uns uͤbergehen, wie Eine Saite
der andern harmoniſch antwortet. Kommt
nun noch die Beſtrebſamkeit des Waͤhnen-
den dazu, uns die Lieblingsmeinungen ſei-
ner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen,
und er weiß ſich dabei recht zu nehmen;
F 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 4. Riga, 1794, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet04_1794/94>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.