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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796.

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denen die Provenzalpoesie den Ton gab,
ist dies ihr Hauptcharakter geblieben.

3. Dagegen aber ward Etwas, wor-
auf die Poesie der Alten ihre Segel nicht
hatte richten dörfen, dieser Poesie Ziel und
Zweck, nämlich Freiheit der Gedan-
ken. Durch die Provenzalpoesie und durch
das was sie hervorbrachte, so viel oder
wenig es war, ward zuerst das Joch zer-
brochen, das alle Völker Europa's unter dem
Despotismus der lateinischen Spra-
che festhielt; und damit war viel gesche-
hen. Sollten Europa's Völker denken ler-
nen, so mußten ihre Landes-Sprachen
gebildet werden; sie mußten in ihrer Volks-
sprache witzige, sinnreiche, anmuthige Dinge
hören, an denen sich ihr Verstand schärfte.
Wenn dieses zuerst auch nur in den obern
Ständen und auf eine sehr unvollkommene
Weise geschah; so gelangte es doch bald

denen die Provenzalpoeſie den Ton gab,
iſt dies ihr Hauptcharakter geblieben.

3. Dagegen aber ward Etwas, wor-
auf die Poeſie der Alten ihre Segel nicht
hatte richten doͤrfen, dieſer Poeſie Ziel und
Zweck, naͤmlich Freiheit der Gedan-
ken. Durch die Provenzalpoeſie und durch
das was ſie hervorbrachte, ſo viel oder
wenig es war, ward zuerſt das Joch zer-
brochen, das alle Voͤlker Europa's unter dem
Deſpotismus der lateiniſchen Spra-
che feſthielt; und damit war viel geſche-
hen. Sollten Europa's Voͤlker denken ler-
nen, ſo mußten ihre Landes-Sprachen
gebildet werden; ſie mußten in ihrer Volks-
ſprache witzige, ſinnreiche, anmuthige Dinge
hoͤren, an denen ſich ihr Verſtand ſchaͤrfte.
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[106/0123] denen die Provenzalpoeſie den Ton gab, iſt dies ihr Hauptcharakter geblieben. 3. Dagegen aber ward Etwas, wor- auf die Poeſie der Alten ihre Segel nicht hatte richten doͤrfen, dieſer Poeſie Ziel und Zweck, naͤmlich Freiheit der Gedan- ken. Durch die Provenzalpoeſie und durch das was ſie hervorbrachte, ſo viel oder wenig es war, ward zuerſt das Joch zer- brochen, das alle Voͤlker Europa's unter dem Deſpotismus der lateiniſchen Spra- che feſthielt; und damit war viel geſche- hen. Sollten Europa's Voͤlker denken ler- nen, ſo mußten ihre Landes-Sprachen gebildet werden; ſie mußten in ihrer Volks- ſprache witzige, ſinnreiche, anmuthige Dinge hoͤren, an denen ſich ihr Verſtand ſchaͤrfte. Wenn dieſes zuerſt auch nur in den obern Staͤnden und auf eine ſehr unvollkommene Weiſe geſchah; ſo gelangte es doch bald

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/123>, abgerufen am 25.11.2024.