Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite
Nachschrift.

So weit das erste Fragment. Samm-
len wir seine Winke, so werden wir gewahr,
daß in Griechenland und Rom die ächte
Poesie mit Religion, Sitten und dem
Staate selbst untergegangen sei: denn wor-
an sollte sie sich, außer diesen ihren drei
Grundstützen halten? Waren die Götter
zu Mährchen worden, an welche niemand
mehr glaubte: so ward man ihrer Lobge-
sänge, zuletzt auch des Gelächters über sie
bald überdrüssig; der Hymnus sowohl als
der Mimus hatte sich an ihnen erschöpfet.

Mit dem Ernst und der Anständigkeit
in Sitten hatte die Poesie ihren gesundesten
und vestesten Nerv verlohren: denn das
Lachen eines Kranken ist nicht ein Zeichen
seiner Gesundheit. Die niedrigen Zwecke,
wozu man im üppigen Rom die Poesie an-

B 2
Nachſchrift.

So weit das erſte Fragment. Samm-
len wir ſeine Winke, ſo werden wir gewahr,
daß in Griechenland und Rom die aͤchte
Poeſie mit Religion, Sitten und dem
Staate ſelbſt untergegangen ſei: denn wor-
an ſollte ſie ſich, außer dieſen ihren drei
Grundſtuͤtzen halten? Waren die Goͤtter
zu Maͤhrchen worden, an welche niemand
mehr glaubte: ſo ward man ihrer Lobge-
ſaͤnge, zuletzt auch des Gelaͤchters uͤber ſie
bald uͤberdruͤſſig; der Hymnus ſowohl als
der Mimus hatte ſich an ihnen erſchoͤpfet.

Mit dem Ernſt und der Anſtaͤndigkeit
in Sitten hatte die Poeſie ihren geſundeſten
und veſteſten Nerv verlohren: denn das
Lachen eines Kranken iſt nicht ein Zeichen
ſeiner Geſundheit. Die niedrigen Zwecke,
wozu man im uͤppigen Rom die Poeſie an-

B 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0036" n="19"/>
      <div n="1">
        <head><hi rendition="#g">Nach&#x017F;chrift</hi>.</head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>So weit das er&#x017F;te Fragment. Samm-<lb/>
len wir &#x017F;eine Winke, &#x017F;o werden wir gewahr,<lb/>
daß in Griechenland und Rom die a&#x0364;chte<lb/><hi rendition="#g">Poe&#x017F;ie</hi> mit Religion, Sitten und dem<lb/>
Staate &#x017F;elb&#x017F;t untergegangen &#x017F;ei: denn wor-<lb/>
an &#x017F;ollte &#x017F;ie &#x017F;ich, außer die&#x017F;en ihren drei<lb/>
Grund&#x017F;tu&#x0364;tzen halten? Waren die Go&#x0364;tter<lb/>
zu Ma&#x0364;hrchen worden, an welche niemand<lb/>
mehr glaubte: &#x017F;o ward man ihrer Lobge-<lb/>
&#x017F;a&#x0364;nge, zuletzt auch des Gela&#x0364;chters u&#x0364;ber &#x017F;ie<lb/>
bald u&#x0364;berdru&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig; der <hi rendition="#g">Hymnus</hi> &#x017F;owohl als<lb/>
der <hi rendition="#g">Mimus</hi> hatte &#x017F;ich an ihnen er&#x017F;cho&#x0364;pfet.</p><lb/>
        <p>Mit dem Ern&#x017F;t und der An&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit<lb/>
in Sitten hatte die Poe&#x017F;ie ihren ge&#x017F;unde&#x017F;ten<lb/>
und ve&#x017F;te&#x017F;ten Nerv verlohren: denn das<lb/>
Lachen eines Kranken i&#x017F;t nicht ein Zeichen<lb/>
&#x017F;einer Ge&#x017F;undheit. Die niedrigen Zwecke,<lb/>
wozu man im u&#x0364;ppigen Rom die Poe&#x017F;ie an-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B 2</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0036] Nachſchrift. So weit das erſte Fragment. Samm- len wir ſeine Winke, ſo werden wir gewahr, daß in Griechenland und Rom die aͤchte Poeſie mit Religion, Sitten und dem Staate ſelbſt untergegangen ſei: denn wor- an ſollte ſie ſich, außer dieſen ihren drei Grundſtuͤtzen halten? Waren die Goͤtter zu Maͤhrchen worden, an welche niemand mehr glaubte: ſo ward man ihrer Lobge- ſaͤnge, zuletzt auch des Gelaͤchters uͤber ſie bald uͤberdruͤſſig; der Hymnus ſowohl als der Mimus hatte ſich an ihnen erſchoͤpfet. Mit dem Ernſt und der Anſtaͤndigkeit in Sitten hatte die Poeſie ihren geſundeſten und veſteſten Nerv verlohren: denn das Lachen eines Kranken iſt nicht ein Zeichen ſeiner Geſundheit. Die niedrigen Zwecke, wozu man im uͤppigen Rom die Poeſie an- B 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/36
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/36>, abgerufen am 21.11.2024.