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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796.

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thum zuträglichen Umstandes wegen erhal-
ten. Selbst die Jüdischen Psalmen wurden
jetzt blos und allein christlich verstanden,
und gegen Ketzer, ja gegen die Juden selbst
Zeitmäßig gedeutet; es ward mit ihnen ge-
betet, geflucht, verbannet, exorcisiret. Was
irgend man in der Literatur fand und an-
wenden wollte, verlor seinen alten Zweck
und ward christlich.

2. Die Musik bekam durch die christ-
lichen Hymnen mit der Zeit eine ganz an-
dre Art und Weise. Da der Inhalt dieser
Gesänge gleichsam ein Chor der Völker
und so allgemein war, daß sich die Töne
dem einzelnen Ausdruck einer individuellen
Empfindung weder anschließen konnten noch
sollten: so ging dabei der Strom der Musik,
allumfassend, in seinem großen Gange desto
ungehinderter und prächtiger fort. Wenig
achtete er auf Füße des Sylbenmaaßes, auf

Siebente Samml. C

thum zutraͤglichen Umſtandes wegen erhal-
ten. Selbſt die Juͤdiſchen Pſalmen wurden
jetzt blos und allein chriſtlich verſtanden,
und gegen Ketzer, ja gegen die Juden ſelbſt
Zeitmaͤßig gedeutet; es ward mit ihnen ge-
betet, geflucht, verbannet, exorciſiret. Was
irgend man in der Literatur fand und an-
wenden wollte, verlor ſeinen alten Zweck
und ward chriſtlich.

2. Die Muſik bekam durch die chriſt-
lichen Hymnen mit der Zeit eine ganz an-
dre Art und Weiſe. Da der Inhalt dieſer
Geſaͤnge gleichſam ein Chor der Voͤlker
und ſo allgemein war, daß ſich die Toͤne
dem einzelnen Ausdruck einer individuellen
Empfindung weder anſchließen konnten noch
ſollten: ſo ging dabei der Strom der Muſik,
allumfaſſend, in ſeinem großen Gange deſto
ungehinderter und praͤchtiger fort. Wenig
achtete er auf Fuͤße des Sylbenmaaßes, auf

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[33/0050] thum zutraͤglichen Umſtandes wegen erhal- ten. Selbſt die Juͤdiſchen Pſalmen wurden jetzt blos und allein chriſtlich verſtanden, und gegen Ketzer, ja gegen die Juden ſelbſt Zeitmaͤßig gedeutet; es ward mit ihnen ge- betet, geflucht, verbannet, exorciſiret. Was irgend man in der Literatur fand und an- wenden wollte, verlor ſeinen alten Zweck und ward chriſtlich. 2. Die Muſik bekam durch die chriſt- lichen Hymnen mit der Zeit eine ganz an- dre Art und Weiſe. Da der Inhalt dieſer Geſaͤnge gleichſam ein Chor der Voͤlker und ſo allgemein war, daß ſich die Toͤne dem einzelnen Ausdruck einer individuellen Empfindung weder anſchließen konnten noch ſollten: ſo ging dabei der Strom der Muſik, allumfaſſend, in ſeinem großen Gange deſto ungehinderter und praͤchtiger fort. Wenig achtete er auf Fuͤße des Sylbenmaaßes, auf Siebente Samml. C

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/50>, abgerufen am 21.11.2024.