Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Mit der Buchdruckerei nämlich kam
Alles an den Tag; die Gedanken aller
Nationen, alter und neuer, flossen in ein-
ander. Wer die Stimmen zu sondern und
Jede zu rechter Zeit zu hören wußte, für
den war dies große Odeum sehr lehrreich;
andre ergriff die Bücherwuth; sie wurden
verwirrte Buchstabenmänner und zuletzt
selbst in Person gedruckte Buchstaben.

Von Anbeginn ist dies nicht also ge-
wesen. Ursprünglich dachte der Mensch,
er handelte und genoß, er sprach und hörte.
Wenn er schreiben konnte, schrieb er, nur
aber was zu schreiben war; nicht ward er
selbst, ohne zu sehen und zu hören, ein
schreibender Buchstab; jetzt -- -- --

Ist dessen die menschliche Natur fähig?
kann sie es ertragen? verwirren sich in
diesem gedruckten Babel nicht alle Gedan-
ken? Und wenn dir jetzt täglich nur zehn

Mit der Buchdruckerei naͤmlich kam
Alles an den Tag; die Gedanken aller
Nationen, alter und neuer, floſſen in ein-
ander. Wer die Stimmen zu ſondern und
Jede zu rechter Zeit zu hoͤren wußte, fuͤr
den war dies große Odeum ſehr lehrreich;
andre ergriff die Buͤcherwuth; ſie wurden
verwirrte Buchſtabenmaͤnner und zuletzt
ſelbſt in Perſon gedruckte Buchſtaben.

Von Anbeginn iſt dies nicht alſo ge-
weſen. Urſpruͤnglich dachte der Menſch,
er handelte und genoß, er ſprach und hoͤrte.
Wenn er ſchreiben konnte, ſchrieb er, nur
aber was zu ſchreiben war; nicht ward er
ſelbſt, ohne zu ſehen und zu hoͤren, ein
ſchreibender Buchſtab; jetzt — — —

Iſt deſſen die menſchliche Natur faͤhig?
kann ſie es ertragen? verwirren ſich in
dieſem gedruckten Babel nicht alle Gedan-
ken? Und wenn dir jetzt taͤglich nur zehn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0071" n="52"/>
        <p>Mit der Buchdruckerei na&#x0364;mlich kam<lb/><hi rendition="#g">Alles</hi> an den Tag; die Gedanken aller<lb/>
Nationen, alter und neuer, flo&#x017F;&#x017F;en in ein-<lb/>
ander. Wer die Stimmen zu &#x017F;ondern und<lb/>
Jede zu rechter Zeit zu ho&#x0364;ren wußte, fu&#x0364;r<lb/>
den war dies große Odeum &#x017F;ehr lehrreich;<lb/>
andre ergriff die Bu&#x0364;cherwuth; &#x017F;ie wurden<lb/>
verwirrte Buch&#x017F;tabenma&#x0364;nner und zuletzt<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t in Per&#x017F;on <hi rendition="#g">gedruckte Buch&#x017F;taben</hi>.</p><lb/>
        <p>Von Anbeginn i&#x017F;t dies nicht al&#x017F;o ge-<lb/>
we&#x017F;en. Ur&#x017F;pru&#x0364;nglich dachte der Men&#x017F;ch,<lb/>
er handelte und genoß, er &#x017F;prach und ho&#x0364;rte.<lb/>
Wenn er &#x017F;chreiben konnte, &#x017F;chrieb er, nur<lb/>
aber was zu &#x017F;chreiben war; nicht ward er<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, ohne zu &#x017F;ehen und zu ho&#x0364;ren, ein<lb/>
&#x017F;chreibender Buch&#x017F;tab; jetzt &#x2014; &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
        <p>I&#x017F;t de&#x017F;&#x017F;en die men&#x017F;chliche Natur fa&#x0364;hig?<lb/>
kann &#x017F;ie es ertragen? verwirren &#x017F;ich in<lb/>
die&#x017F;em gedruckten Babel nicht alle Gedan-<lb/>
ken? Und wenn dir jetzt ta&#x0364;glich nur zehn<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0071] Mit der Buchdruckerei naͤmlich kam Alles an den Tag; die Gedanken aller Nationen, alter und neuer, floſſen in ein- ander. Wer die Stimmen zu ſondern und Jede zu rechter Zeit zu hoͤren wußte, fuͤr den war dies große Odeum ſehr lehrreich; andre ergriff die Buͤcherwuth; ſie wurden verwirrte Buchſtabenmaͤnner und zuletzt ſelbſt in Perſon gedruckte Buchſtaben. Von Anbeginn iſt dies nicht alſo ge- weſen. Urſpruͤnglich dachte der Menſch, er handelte und genoß, er ſprach und hoͤrte. Wenn er ſchreiben konnte, ſchrieb er, nur aber was zu ſchreiben war; nicht ward er ſelbſt, ohne zu ſehen und zu hoͤren, ein ſchreibender Buchſtab; jetzt — — — Iſt deſſen die menſchliche Natur faͤhig? kann ſie es ertragen? verwirren ſich in dieſem gedruckten Babel nicht alle Gedan- ken? Und wenn dir jetzt taͤglich nur zehn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796/71
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796/71>, abgerufen am 22.12.2024.