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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

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seine Quelle im Gebirge zu denken. Wir
wollen es nicht wissen, wir finden unsre Rech-
nung dabei es zu vergessen, daß Homer, der
blinde Bettler, eben der Homer ist, der uns
in seinen Werken so entzückt. Er bringt uns
unter Götter und Helden; wir müßten in die-
ser Gesellschaft viel Langeweile haben, um
uns nach dem Thürsteher so genau zu erkun-
digen, der uns hereingelassen. Die Täuschung
muß sehr schwach seyn, man muß wenig Na-
tur, aber desto mehr Künstelei empfinden,
wenn man so neugierig nach dem Künst-
ler ist." *)

35.

"Kann es nicht eben sowohl seyn, daß der
Dichter und Künstler das, was ich für Fle-
cken halte, für keine hält? Und ist es nicht
sehr wahrscheinlich, daß er mehr Recht hat,
als ich? Ich bin überzeugt, daß das Auge

*) Dramat. St. 36.

ſeine Quelle im Gebirge zu denken. Wir
wollen es nicht wiſſen, wir finden unſre Rech-
nung dabei es zu vergeſſen, daß Homer, der
blinde Bettler, eben der Homer iſt, der uns
in ſeinen Werken ſo entzuͤckt. Er bringt uns
unter Goͤtter und Helden; wir muͤßten in die-
ſer Geſellſchaft viel Langeweile haben, um
uns nach dem Thuͤrſteher ſo genau zu erkun-
digen, der uns hereingelaſſen. Die Taͤuſchung
muß ſehr ſchwach ſeyn, man muß wenig Na-
tur, aber deſto mehr Kuͤnſtelei empfinden,
wenn man ſo neugierig nach dem Kuͤnſt-
ler iſt.“ *)

35.

„Kann es nicht eben ſowohl ſeyn, daß der
Dichter und Kuͤnſtler das, was ich fuͤr Fle-
cken halte, fuͤr keine haͤlt? Und iſt es nicht
ſehr wahrſcheinlich, daß er mehr Recht hat,
als ich? Ich bin uͤberzeugt, daß das Auge

*) Dramat. St. 36.
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[101/0108] ſeine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wollen es nicht wiſſen, wir finden unſre Rech- nung dabei es zu vergeſſen, daß Homer, der blinde Bettler, eben der Homer iſt, der uns in ſeinen Werken ſo entzuͤckt. Er bringt uns unter Goͤtter und Helden; wir muͤßten in die- ſer Geſellſchaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Thuͤrſteher ſo genau zu erkun- digen, der uns hereingelaſſen. Die Taͤuſchung muß ſehr ſchwach ſeyn, man muß wenig Na- tur, aber deſto mehr Kuͤnſtelei empfinden, wenn man ſo neugierig nach dem Kuͤnſt- ler iſt.“ *) 35. „Kann es nicht eben ſowohl ſeyn, daß der Dichter und Kuͤnſtler das, was ich fuͤr Fle- cken halte, fuͤr keine haͤlt? Und iſt es nicht ſehr wahrſcheinlich, daß er mehr Recht hat, als ich? Ich bin uͤberzeugt, daß das Auge *) Dramat. St. 36.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/108>, abgerufen am 26.11.2024.