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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

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des Künstlers größtentheils viel scharfsichtiger
ist, als das scharfsichtigste seiner Betrachter.
Unter zwanzig Einwürfen, die ihm diese ma-
chen, wird er sich von neunzehn erinnern, sie
während der Arbeit sich selbst gemacht, und
sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben.
Gleichwohl wird er nicht ungehalten seyn, sie
auch von andern machen zu hören: denn er
hat es gern, daß man über sein Werk ur-
theilet; schal oder gründlich, links oder rechts,
gutartig oder hämisch, alles gilt ihm gleich;
und auch das schalste, linkste, hämischste Ur-
theil ist ihm lieber als kalte Bewunderung.
Jenes wird er auf die eine oder die andre
Art in seinen Nutzen zu verwenden wissen;
aber was fängt er mit dieser an? Verach-
ten möchte er die guten ehrlichen Leute nicht
gern, die ihn für so etwas Außerordentli-
ches halten: und doch muß er die Achseln
über sie zucken. Er ist nicht eitel, aber er
ist gemeiniglich stolz; und aus Stolz möch-
te er zehnmal lieber einen unverdienten Ta-

des Kuͤnſtlers groͤßtentheils viel ſcharfſichtiger
iſt, als das ſcharfſichtigſte ſeiner Betrachter.
Unter zwanzig Einwuͤrfen, die ihm dieſe ma-
chen, wird er ſich von neunzehn erinnern, ſie
waͤhrend der Arbeit ſich ſelbſt gemacht, und
ſie auch ſchon ſich ſelbſt beantwortet zu haben.
Gleichwohl wird er nicht ungehalten ſeyn, ſie
auch von andern machen zu hoͤren: denn er
hat es gern, daß man uͤber ſein Werk ur-
theilet; ſchal oder gruͤndlich, links oder rechts,
gutartig oder haͤmiſch, alles gilt ihm gleich;
und auch das ſchalſte, linkſte, haͤmiſchſte Ur-
theil iſt ihm lieber als kalte Bewunderung.
Jenes wird er auf die eine oder die andre
Art in ſeinen Nutzen zu verwenden wiſſen;
aber was faͤngt er mit dieſer an? Verach-
ten moͤchte er die guten ehrlichen Leute nicht
gern, die ihn fuͤr ſo etwas Außerordentli-
ches halten: und doch muß er die Achſeln
uͤber ſie zucken. Er iſt nicht eitel, aber er
iſt gemeiniglich ſtolz; und aus Stolz moͤch-
te er zehnmal lieber einen unverdienten Ta-

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[102/0109] des Kuͤnſtlers groͤßtentheils viel ſcharfſichtiger iſt, als das ſcharfſichtigſte ſeiner Betrachter. Unter zwanzig Einwuͤrfen, die ihm dieſe ma- chen, wird er ſich von neunzehn erinnern, ſie waͤhrend der Arbeit ſich ſelbſt gemacht, und ſie auch ſchon ſich ſelbſt beantwortet zu haben. Gleichwohl wird er nicht ungehalten ſeyn, ſie auch von andern machen zu hoͤren: denn er hat es gern, daß man uͤber ſein Werk ur- theilet; ſchal oder gruͤndlich, links oder rechts, gutartig oder haͤmiſch, alles gilt ihm gleich; und auch das ſchalſte, linkſte, haͤmiſchſte Ur- theil iſt ihm lieber als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die andre Art in ſeinen Nutzen zu verwenden wiſſen; aber was faͤngt er mit dieſer an? Verach- ten moͤchte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn fuͤr ſo etwas Außerordentli- ches halten: und doch muß er die Achſeln uͤber ſie zucken. Er iſt nicht eitel, aber er iſt gemeiniglich ſtolz; und aus Stolz moͤch- te er zehnmal lieber einen unverdienten Ta-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/109>, abgerufen am 26.11.2024.