Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 10. Riga, 1797.

Bild:
<< vorherige Seite

jauchzende Epopee, mit einer dürren oder
abscheulichen Thatenreihe frölich durch-
webet.

Europa hat an diesem morgenländischen
Geschmack vielen Antheil genommen, nicht
etwa nur in den Zeiten der Kreuzzüge,
sondern auch in den meisten Lebensbeschrei-
bungen einzelner Helden, in der Geschichte
ganzer Sekten, Familien und Familien-
kriege. Man staunt, wenn man die
Andacht und Anhänglichkeit des Schrift-
stellers an seinen verehrten Gegenstand
wahrnimmt, und kann nichts anders sa-
gen, als: "er hat aus dem Becher der
Betäubung getrunken; Wein der Dämo-
nen hat ihm die Sinne benebelt."

Die klügste Geschichte dieser Art ist
die kälteste, etwa wie Machiavell sie
trieb und ansah. Auch sie vergißt Recht
und Unrecht, Laster und Tugend, indem

jauchzende Epopee, mit einer duͤrren oder
abſcheulichen Thatenreihe froͤlich durch-
webet.

Europa hat an dieſem morgenlaͤndiſchen
Geſchmack vielen Antheil genommen, nicht
etwa nur in den Zeiten der Kreuzzuͤge,
ſondern auch in den meiſten Lebensbeſchrei-
bungen einzelner Helden, in der Geſchichte
ganzer Sekten, Familien und Familien-
kriege. Man ſtaunt, wenn man die
Andacht und Anhaͤnglichkeit des Schrift-
ſtellers an ſeinen verehrten Gegenſtand
wahrnimmt, und kann nichts anders ſa-
gen, als: „er hat aus dem Becher der
Betaͤubung getrunken; Wein der Daͤmo-
nen hat ihm die Sinne benebelt.“

Die kluͤgſte Geſchichte dieſer Art iſt
die kaͤlteſte, etwa wie Machiavell ſie
trieb und anſah. Auch ſie vergißt Recht
und Unrecht, Laſter und Tugend, indem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0165" n="158"/>
jauchzende Epopee, mit einer du&#x0364;rren oder<lb/>
ab&#x017F;cheulichen Thatenreihe fro&#x0364;lich durch-<lb/>
webet.</p><lb/>
        <p>Europa hat an die&#x017F;em morgenla&#x0364;ndi&#x017F;chen<lb/>
Ge&#x017F;chmack vielen Antheil genommen, nicht<lb/>
etwa nur in den Zeiten der Kreuzzu&#x0364;ge,<lb/>
&#x017F;ondern auch in den mei&#x017F;ten Lebensbe&#x017F;chrei-<lb/>
bungen einzelner Helden, in der Ge&#x017F;chichte<lb/>
ganzer Sekten, Familien und <hi rendition="#g">Familien</hi>-<lb/><hi rendition="#g">kriege</hi>. Man &#x017F;taunt, wenn man die<lb/>
Andacht und Anha&#x0364;nglichkeit des Schrift-<lb/>
&#x017F;tellers an &#x017F;einen verehrten Gegen&#x017F;tand<lb/>
wahrnimmt, und kann nichts anders &#x017F;a-<lb/>
gen, als: &#x201E;er hat aus dem Becher der<lb/>
Beta&#x0364;ubung getrunken; Wein der Da&#x0364;mo-<lb/>
nen hat ihm die Sinne benebelt.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Die <hi rendition="#g">klu&#x0364;g&#x017F;te</hi> Ge&#x017F;chichte die&#x017F;er Art i&#x017F;t<lb/>
die ka&#x0364;lte&#x017F;te, etwa wie <hi rendition="#g">Machiavell</hi> &#x017F;ie<lb/>
trieb und an&#x017F;ah. Auch &#x017F;ie vergißt Recht<lb/>
und Unrecht, La&#x017F;ter und Tugend, indem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[158/0165] jauchzende Epopee, mit einer duͤrren oder abſcheulichen Thatenreihe froͤlich durch- webet. Europa hat an dieſem morgenlaͤndiſchen Geſchmack vielen Antheil genommen, nicht etwa nur in den Zeiten der Kreuzzuͤge, ſondern auch in den meiſten Lebensbeſchrei- bungen einzelner Helden, in der Geſchichte ganzer Sekten, Familien und Familien- kriege. Man ſtaunt, wenn man die Andacht und Anhaͤnglichkeit des Schrift- ſtellers an ſeinen verehrten Gegenſtand wahrnimmt, und kann nichts anders ſa- gen, als: „er hat aus dem Becher der Betaͤubung getrunken; Wein der Daͤmo- nen hat ihm die Sinne benebelt.“ Die kluͤgſte Geſchichte dieſer Art iſt die kaͤlteſte, etwa wie Machiavell ſie trieb und anſah. Auch ſie vergißt Recht und Unrecht, Laſter und Tugend, indem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet10_1797
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet10_1797/165
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 10. Riga, 1797, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet10_1797/165>, abgerufen am 24.11.2024.