[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. auf eigne Art, zu werden. Homer, der Sohn ei-nes himmlischen Genius, ward der Vater schöner Dichter und schöner Künstler: und glücklich ist das Land, dem in der sinnlichen Poesie und der noch sinn- lichern Kunst, der Geist seiner Zeit in Religion und Sitten und Gelehrsamkeit und Cultur so wenig Zwang auflegt, als Griechenland in seinen schönsten Zeiten. Jch wundre mich, daß W. in seinen Schriften diese Abstreifung fremder, alter, allego- rischer Begriffe nicht mehr bemerkt, und in ihrer Nutzbarkeit gezeiget hat: es ist ein Hauptknoten in dem Faden der Kunstgeschichte: "wie die Griechen "so manche fremde drückende Jdeen in die ihnen "eigne schöne Natur verwandelt haben!" Von hieraus gienge der sicherste Weg, um 8. Wenn Schönheit das höchste Gesetz der bil- fand,
Erſtes Waͤldchen. auf eigne Art, zu werden. Homer, der Sohn ei-nes himmliſchen Genius, ward der Vater ſchoͤner Dichter und ſchoͤner Kuͤnſtler: und gluͤcklich iſt das Land, dem in der ſinnlichen Poeſie und der noch ſinn- lichern Kunſt, der Geiſt ſeiner Zeit in Religion und Sitten und Gelehrſamkeit und Cultur ſo wenig Zwang auflegt, als Griechenland in ſeinen ſchoͤnſten Zeiten. Jch wundre mich, daß W. in ſeinen Schriften dieſe Abſtreifung fremder, alter, allego- riſcher Begriffe nicht mehr bemerkt, und in ihrer Nutzbarkeit gezeiget hat: es iſt ein Hauptknoten in dem Faden der Kunſtgeſchichte: „wie die Griechen „ſo manche fremde druͤckende Jdeen in die ihnen „eigne ſchoͤne Natur verwandelt haben!„ Von hieraus gienge der ſicherſte Weg, um 8. Wenn Schoͤnheit das hoͤchſte Geſetz der bil- fand,
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0101" n="95"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Erſtes Waͤldchen.</hi></fw><lb/> auf eigne Art, zu werden. Homer, der Sohn ei-<lb/> nes himmliſchen Genius, ward der Vater ſchoͤner<lb/> Dichter und ſchoͤner Kuͤnſtler: und gluͤcklich iſt das<lb/> Land, dem in der ſinnlichen Poeſie und der noch ſinn-<lb/> lichern Kunſt, der Geiſt ſeiner Zeit in Religion und<lb/> Sitten und Gelehrſamkeit und Cultur ſo wenig<lb/> Zwang auflegt, als Griechenland in ſeinen ſchoͤnſten<lb/> Zeiten. Jch wundre mich, daß W. in ſeinen<lb/> Schriften dieſe Abſtreifung fremder, alter, allego-<lb/> riſcher Begriffe nicht mehr bemerkt, und in ihrer<lb/> Nutzbarkeit gezeiget hat: es iſt ein Hauptknoten in<lb/> dem Faden der Kunſtgeſchichte: „wie die Griechen<lb/> „ſo manche fremde druͤckende Jdeen in die ihnen<lb/> „eigne ſchoͤne Natur verwandelt haben!„</p><lb/> <p>Von hieraus gienge der ſicherſte Weg, um<lb/> zwiſchen inne durch Bedeutung und Schoͤnheit,<lb/> durch Allegorie und Schoͤnheit der Kunſt und Poe-<lb/> ſie unbeſchaͤdigt durchzukommen: ich wuͤrde aber<lb/> mit einmal zu tief in den Unterſchied der dichten-<lb/> den und bildenden Kunſt tauchen muͤſſen — alſo<lb/> zuruͤck zu unſern Prolegomenen.</p> </div><lb/> <div n="2"> <head>8.</head><lb/> <p>Wenn Schoͤnheit das hoͤchſte Geſetz der bil-<lb/> denden Kunſt iſt: freilich, ſo muß Laokoon nicht<lb/> ſchreien, ſondern lieber nur beklemmt ſeufzen: denn<lb/> wenn ſchon Sophokles zu ſeinem theatraliſchen Auf-<lb/> tritt einen bruͤllenden Philoktet eben ſo ungereimt<lb/> <fw place="bottom" type="catch">fand,</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [95/0101]
Erſtes Waͤldchen.
auf eigne Art, zu werden. Homer, der Sohn ei-
nes himmliſchen Genius, ward der Vater ſchoͤner
Dichter und ſchoͤner Kuͤnſtler: und gluͤcklich iſt das
Land, dem in der ſinnlichen Poeſie und der noch ſinn-
lichern Kunſt, der Geiſt ſeiner Zeit in Religion und
Sitten und Gelehrſamkeit und Cultur ſo wenig
Zwang auflegt, als Griechenland in ſeinen ſchoͤnſten
Zeiten. Jch wundre mich, daß W. in ſeinen
Schriften dieſe Abſtreifung fremder, alter, allego-
riſcher Begriffe nicht mehr bemerkt, und in ihrer
Nutzbarkeit gezeiget hat: es iſt ein Hauptknoten in
dem Faden der Kunſtgeſchichte: „wie die Griechen
„ſo manche fremde druͤckende Jdeen in die ihnen
„eigne ſchoͤne Natur verwandelt haben!„
Von hieraus gienge der ſicherſte Weg, um
zwiſchen inne durch Bedeutung und Schoͤnheit,
durch Allegorie und Schoͤnheit der Kunſt und Poe-
ſie unbeſchaͤdigt durchzukommen: ich wuͤrde aber
mit einmal zu tief in den Unterſchied der dichten-
den und bildenden Kunſt tauchen muͤſſen — alſo
zuruͤck zu unſern Prolegomenen.
8.
Wenn Schoͤnheit das hoͤchſte Geſetz der bil-
denden Kunſt iſt: freilich, ſo muß Laokoon nicht
ſchreien, ſondern lieber nur beklemmt ſeufzen: denn
wenn ſchon Sophokles zu ſeinem theatraliſchen Auf-
tritt einen bruͤllenden Philoktet eben ſo ungereimt
fand,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |