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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.
Virgil muß nachgeahmet haben; entweder nun ei-
nem Kunstwerke, oder welches mich wahrscheinlicher
dünkt, dem Gemälde Homers. Das hat von je-
her den Nachahmer verrathen, wenn er mit gar zu
künstlicher Hand klecket, und Nebendinge am sorg-
fältigsten vollendet. Eben daher wage ichs, zu sa-
gen, daß Virgils Schilderung mehr das Ohr fül-
let, als die Seele. Mit allem Vorplätschern der
Schlangen thut sie nichts, als uns zerstreuen und
betäuben: mit allen Windungen derselben um Lao-
koon, die hier so genau angezeigt werden, wird un-
ser Auge vom Laokoon auf die Schlangen gewandt:
wir vergessen, auf sein Gesicht zu merken, und auf
die Seele, die in demselben spreche: endlich zeiget
sich dieselbe -- aber durch ein wüstes Geschrei,
durch das Brüllen eines verwundeten Stiers, der
vom Altar entlaufen:

clamores horrendos ad sidera tollit - -

freilich, "ein erhabener Zug für das Gehör" wie ich
Hrn. L. gern zugebe a); aber ein leerer Schall für
die Seele. Der Dichter hat sich so sehr in die Win-
dungen seiner Schlangen verschlungen, daß er eins,
und zum Unglücke das Hauptstück, vergißt: Laokoon
selbst, und seine Angst und den Zustand seiner Seele:
Züge, die Homer so gar bei seiner jungen Sper-
lingsbrut, und bei ihrer armen Mutter nicht ver-
gißt, und uns also ein Bild nicht fürs Auge, und

noch
a) Laok. p. 30.
G 3

Erſtes Waͤldchen.
Virgil muß nachgeahmet haben; entweder nun ei-
nem Kunſtwerke, oder welches mich wahrſcheinlicher
duͤnkt, dem Gemaͤlde Homers. Das hat von je-
her den Nachahmer verrathen, wenn er mit gar zu
kuͤnſtlicher Hand klecket, und Nebendinge am ſorg-
faͤltigſten vollendet. Eben daher wage ichs, zu ſa-
gen, daß Virgils Schilderung mehr das Ohr fuͤl-
let, als die Seele. Mit allem Vorplaͤtſchern der
Schlangen thut ſie nichts, als uns zerſtreuen und
betaͤuben: mit allen Windungen derſelben um Lao-
koon, die hier ſo genau angezeigt werden, wird un-
ſer Auge vom Laokoon auf die Schlangen gewandt:
wir vergeſſen, auf ſein Geſicht zu merken, und auf
die Seele, die in demſelben ſpreche: endlich zeiget
ſich dieſelbe — aber durch ein wuͤſtes Geſchrei,
durch das Bruͤllen eines verwundeten Stiers, der
vom Altar entlaufen:

clamores horrendos ad ſidera tollit ‒ ‒

freilich, „ein erhabener Zug fuͤr das Gehoͤr„ wie ich
Hrn. L. gern zugebe a); aber ein leerer Schall fuͤr
die Seele. Der Dichter hat ſich ſo ſehr in die Win-
dungen ſeiner Schlangen verſchlungen, daß er eins,
und zum Ungluͤcke das Hauptſtuͤck, vergißt: Laokoon
ſelbſt, und ſeine Angſt und den Zuſtand ſeiner Seele:
Zuͤge, die Homer ſo gar bei ſeiner jungen Sper-
lingsbrut, und bei ihrer armen Mutter nicht ver-
gißt, und uns alſo ein Bild nicht fuͤrs Auge, und

noch
a) Laok. p. 30.
G 3
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[101/0107] Erſtes Waͤldchen. Virgil muß nachgeahmet haben; entweder nun ei- nem Kunſtwerke, oder welches mich wahrſcheinlicher duͤnkt, dem Gemaͤlde Homers. Das hat von je- her den Nachahmer verrathen, wenn er mit gar zu kuͤnſtlicher Hand klecket, und Nebendinge am ſorg- faͤltigſten vollendet. Eben daher wage ichs, zu ſa- gen, daß Virgils Schilderung mehr das Ohr fuͤl- let, als die Seele. Mit allem Vorplaͤtſchern der Schlangen thut ſie nichts, als uns zerſtreuen und betaͤuben: mit allen Windungen derſelben um Lao- koon, die hier ſo genau angezeigt werden, wird un- ſer Auge vom Laokoon auf die Schlangen gewandt: wir vergeſſen, auf ſein Geſicht zu merken, und auf die Seele, die in demſelben ſpreche: endlich zeiget ſich dieſelbe — aber durch ein wuͤſtes Geſchrei, durch das Bruͤllen eines verwundeten Stiers, der vom Altar entlaufen: clamores horrendos ad ſidera tollit ‒ ‒ freilich, „ein erhabener Zug fuͤr das Gehoͤr„ wie ich Hrn. L. gern zugebe a); aber ein leerer Schall fuͤr die Seele. Der Dichter hat ſich ſo ſehr in die Win- dungen ſeiner Schlangen verſchlungen, daß er eins, und zum Ungluͤcke das Hauptſtuͤck, vergißt: Laokoon ſelbſt, und ſeine Angſt und den Zuſtand ſeiner Seele: Zuͤge, die Homer ſo gar bei ſeiner jungen Sper- lingsbrut, und bei ihrer armen Mutter nicht ver- gißt, und uns alſo ein Bild nicht fuͤrs Auge, und noch a) Laok. p. 30. G 3

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/107>, abgerufen am 24.11.2024.