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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Kritische Wälder.
Plätschern im Meer müssen sie machen, ehe sie be-
merkt werden." Zwo Schlangen kommen von der
Höhe des Meers herab: in ungeheure Ringe ge-
schlungen, (mich schaudert es zu sagen!) liegen sie
auf der See und streben gemeinschaftlich ans Ufer.
Mitten aus den Fluthen hebt sich ihre Brust empor:
über die Wasser ragen ihre blutrothen Kämme: ihr
übriger Körper ist mit der langen Oberfläche der
See gleich, und krümmt seinen unmäßlich langen
Rücken in Ringen heran. Es entsteht ein Geräusch
bei schäumender See, und schon sind sie am Ufer:
ihre Augen funkeln, ihre Zungen züngeln, zischen
-- welch entsetzlich lange Vorbereitung, so episch, so
malerisch, daß -- ich nicht weiß, wie Ein Grieche
ihre Ankunft abwartet. Wie vieles wendet Virgil
auf den Nebenzug eines Gemäldes, den Homer mit
einem Worte vollendete! und wie ist die ganze Schil-
derung mit solchen ausgemalten Nebenzügen über-
laden -- beinahe ein untrügliches Wahrzeichen,
daß der Dichter nach der Hand eines andern gear-
beitet, daß er nicht aus dem Feuer seiner Phanta-
sie geschrieben. Wäre dies, wie würde er sich so
lange bei ihrem Heranplätschern, und noch länger
bei ihren Ringen und Schlingen aufhalten? Diese
sind ihm das Hauptaugenmerk: sie kommen ihm
immer von neuem ins Gesicht, und er schaudert nie
mehr, als wenn er an diese unermäßliche Windun-
gen, und Umschlingungen und Stellungen denkt.

Vir-

Kritiſche Waͤlder.
Plaͤtſchern im Meer muͤſſen ſie machen, ehe ſie be-
merkt werden.„ Zwo Schlangen kommen von der
Hoͤhe des Meers herab: in ungeheure Ringe ge-
ſchlungen, (mich ſchaudert es zu ſagen!) liegen ſie
auf der See und ſtreben gemeinſchaftlich ans Ufer.
Mitten aus den Fluthen hebt ſich ihre Bruſt empor:
uͤber die Waſſer ragen ihre blutrothen Kaͤmme: ihr
uͤbriger Koͤrper iſt mit der langen Oberflaͤche der
See gleich, und kruͤmmt ſeinen unmaͤßlich langen
Ruͤcken in Ringen heran. Es entſteht ein Geraͤuſch
bei ſchaͤumender See, und ſchon ſind ſie am Ufer:
ihre Augen funkeln, ihre Zungen zuͤngeln, ziſchen
— welch entſetzlich lange Vorbereitung, ſo epiſch, ſo
maleriſch, daß — ich nicht weiß, wie Ein Grieche
ihre Ankunft abwartet. Wie vieles wendet Virgil
auf den Nebenzug eines Gemaͤldes, den Homer mit
einem Worte vollendete! und wie iſt die ganze Schil-
derung mit ſolchen ausgemalten Nebenzuͤgen uͤber-
laden — beinahe ein untruͤgliches Wahrzeichen,
daß der Dichter nach der Hand eines andern gear-
beitet, daß er nicht aus dem Feuer ſeiner Phanta-
ſie geſchrieben. Waͤre dies, wie wuͤrde er ſich ſo
lange bei ihrem Heranplaͤtſchern, und noch laͤnger
bei ihren Ringen und Schlingen aufhalten? Dieſe
ſind ihm das Hauptaugenmerk: ſie kommen ihm
immer von neuem ins Geſicht, und er ſchaudert nie
mehr, als wenn er an dieſe unermaͤßliche Windun-
gen, und Umſchlingungen und Stellungen denkt.

Vir-
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[100/0106] Kritiſche Waͤlder. Plaͤtſchern im Meer muͤſſen ſie machen, ehe ſie be- merkt werden.„ Zwo Schlangen kommen von der Hoͤhe des Meers herab: in ungeheure Ringe ge- ſchlungen, (mich ſchaudert es zu ſagen!) liegen ſie auf der See und ſtreben gemeinſchaftlich ans Ufer. Mitten aus den Fluthen hebt ſich ihre Bruſt empor: uͤber die Waſſer ragen ihre blutrothen Kaͤmme: ihr uͤbriger Koͤrper iſt mit der langen Oberflaͤche der See gleich, und kruͤmmt ſeinen unmaͤßlich langen Ruͤcken in Ringen heran. Es entſteht ein Geraͤuſch bei ſchaͤumender See, und ſchon ſind ſie am Ufer: ihre Augen funkeln, ihre Zungen zuͤngeln, ziſchen — welch entſetzlich lange Vorbereitung, ſo epiſch, ſo maleriſch, daß — ich nicht weiß, wie Ein Grieche ihre Ankunft abwartet. Wie vieles wendet Virgil auf den Nebenzug eines Gemaͤldes, den Homer mit einem Worte vollendete! und wie iſt die ganze Schil- derung mit ſolchen ausgemalten Nebenzuͤgen uͤber- laden — beinahe ein untruͤgliches Wahrzeichen, daß der Dichter nach der Hand eines andern gear- beitet, daß er nicht aus dem Feuer ſeiner Phanta- ſie geſchrieben. Waͤre dies, wie wuͤrde er ſich ſo lange bei ihrem Heranplaͤtſchern, und noch laͤnger bei ihren Ringen und Schlingen aufhalten? Dieſe ſind ihm das Hauptaugenmerk: ſie kommen ihm immer von neuem ins Geſicht, und er ſchaudert nie mehr, als wenn er an dieſe unermaͤßliche Windun- gen, und Umſchlingungen und Stellungen denkt. Vir-

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/106>, abgerufen am 21.11.2024.