[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. Was würde hieraus folgen? Dies, daß wenn Gesetzt also, er hätte den verlohrnen Laokoon des mäl- G 5
Erſtes Waͤldchen. Was wuͤrde hieraus folgen? Dies, daß wenn Geſetzt alſo, er haͤtte den verlohrnen Laokoon des maͤl- G 5
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Erſtes Waͤldchen.
Was wuͤrde hieraus folgen? Dies, daß wenn
Virgil nach Homer gearbeitet, er immer ſeine Ge-
ſchichte, er habe ſie aus Piſander, Euphormio, So-
phokles geſchoͤpft, nach ſeiner Art veraͤndert habe,
und daß alſo der Kuͤnſtler neben ihm aus eben dieſer
Quelle haben ſchoͤpfen, und doch in der Vorſtel-
lung von ihm abgehen koͤnnen, wenn er auch bloß
dem griechiſchen Buchſtaben gefolget waͤre.
Geſetzt alſo, er haͤtte den verlohrnen Laokoon des
Sophokles vor ſich gehabt: welche Jdee haͤtte ihm
die ſophokleiſche Muſe geben muͤſſen? Sophokles,
ein ſo weiſer Dichter des Theaters, der zuerſt auf
demſelben gleichſam Sittlichkeit und Anſtand veſt-
ſetzte, der hierinn vielleicht einzig und allein das
rechte Maas traf; Sophokles, der bei ſeinem Phi-
loktet die Leiden des Koͤrpers ſo ſehr in Leiden der
Seele zu verwandeln wuſte — wie wird er ſeinen
Laokoon geſchildert haben? Mit dem Hauptzuge des
graͤßlichen Geſchreies? Ein vortreffliches Mittel,
das Trommelfell des Ohres, aber nicht unſer Herz,
zu ruͤhren. Gewiß wird er beſſere Wege an unſer
Herz geſucht, und alſo auch Laokoons Schmerzen und
Geſchrei mit der Waage des richteriſchen Genies zu-
gewogen, mit der er ſie dem Philoktet zuwiegt.
Nun laſſet einen weiſen griechiſchen Kuͤnſtler von ei-
nem weiſen griechiſchen Dichter dieſen Gegenſtand
geborgt: laſſet ihn die Manier des theatraliſchen Ge-
maͤl-
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