Was würde hieraus folgen? Dies, daß wenn Virgil nach Homer gearbeitet, er immer seine Ge- schichte, er habe sie aus Pisander, Euphormio, So- phokles geschöpft, nach seiner Art verändert habe, und daß also der Künstler neben ihm aus eben dieser Quelle haben schöpfen, und doch in der Vorstel- lung von ihm abgehen können, wenn er auch bloß dem griechischen Buchstaben gefolget wäre.
Gesetzt also, er hätte den verlohrnen Laokoon des Sophokles vor sich gehabt: welche Jdee hätte ihm die sophokleische Muse geben müssen? Sophokles, ein so weiser Dichter des Theaters, der zuerst auf demselben gleichsam Sittlichkeit und Anstand vest- setzte, der hierinn vielleicht einzig und allein das rechte Maas traf; Sophokles, der bei seinem Phi- loktet die Leiden des Körpers so sehr in Leiden der Seele zu verwandeln wuste -- wie wird er seinen Laokoon geschildert haben? Mit dem Hauptzuge des gräßlichen Geschreies? Ein vortreffliches Mittel, das Trommelfell des Ohres, aber nicht unser Herz, zu rühren. Gewiß wird er bessere Wege an unser Herz gesucht, und also auch Laokoons Schmerzen und Geschrei mit der Waage des richterischen Genies zu- gewogen, mit der er sie dem Philoktet zuwiegt. Nun lasset einen weisen griechischen Künstler von ei- nem weisen griechischen Dichter diesen Gegenstand geborgt: lasset ihn die Manier des theatralischen Ge-
mäl-
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Erſtes Waͤldchen.
Was wuͤrde hieraus folgen? Dies, daß wenn Virgil nach Homer gearbeitet, er immer ſeine Ge- ſchichte, er habe ſie aus Piſander, Euphormio, So- phokles geſchoͤpft, nach ſeiner Art veraͤndert habe, und daß alſo der Kuͤnſtler neben ihm aus eben dieſer Quelle haben ſchoͤpfen, und doch in der Vorſtel- lung von ihm abgehen koͤnnen, wenn er auch bloß dem griechiſchen Buchſtaben gefolget waͤre.
Geſetzt alſo, er haͤtte den verlohrnen Laokoon des Sophokles vor ſich gehabt: welche Jdee haͤtte ihm die ſophokleiſche Muſe geben muͤſſen? Sophokles, ein ſo weiſer Dichter des Theaters, der zuerſt auf demſelben gleichſam Sittlichkeit und Anſtand veſt- ſetzte, der hierinn vielleicht einzig und allein das rechte Maas traf; Sophokles, der bei ſeinem Phi- loktet die Leiden des Koͤrpers ſo ſehr in Leiden der Seele zu verwandeln wuſte — wie wird er ſeinen Laokoon geſchildert haben? Mit dem Hauptzuge des graͤßlichen Geſchreies? Ein vortreffliches Mittel, das Trommelfell des Ohres, aber nicht unſer Herz, zu ruͤhren. Gewiß wird er beſſere Wege an unſer Herz geſucht, und alſo auch Laokoons Schmerzen und Geſchrei mit der Waage des richteriſchen Genies zu- gewogen, mit der er ſie dem Philoktet zuwiegt. Nun laſſet einen weiſen griechiſchen Kuͤnſtler von ei- nem weiſen griechiſchen Dichter dieſen Gegenſtand geborgt: laſſet ihn die Manier des theatraliſchen Ge-
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Erſtes Waͤldchen.
Was wuͤrde hieraus folgen? Dies, daß wenn
Virgil nach Homer gearbeitet, er immer ſeine Ge-
ſchichte, er habe ſie aus Piſander, Euphormio, So-
phokles geſchoͤpft, nach ſeiner Art veraͤndert habe,
und daß alſo der Kuͤnſtler neben ihm aus eben dieſer
Quelle haben ſchoͤpfen, und doch in der Vorſtel-
lung von ihm abgehen koͤnnen, wenn er auch bloß
dem griechiſchen Buchſtaben gefolget waͤre.
Geſetzt alſo, er haͤtte den verlohrnen Laokoon des
Sophokles vor ſich gehabt: welche Jdee haͤtte ihm
die ſophokleiſche Muſe geben muͤſſen? Sophokles,
ein ſo weiſer Dichter des Theaters, der zuerſt auf
demſelben gleichſam Sittlichkeit und Anſtand veſt-
ſetzte, der hierinn vielleicht einzig und allein das
rechte Maas traf; Sophokles, der bei ſeinem Phi-
loktet die Leiden des Koͤrpers ſo ſehr in Leiden der
Seele zu verwandeln wuſte — wie wird er ſeinen
Laokoon geſchildert haben? Mit dem Hauptzuge des
graͤßlichen Geſchreies? Ein vortreffliches Mittel,
das Trommelfell des Ohres, aber nicht unſer Herz,
zu ruͤhren. Gewiß wird er beſſere Wege an unſer
Herz geſucht, und alſo auch Laokoons Schmerzen und
Geſchrei mit der Waage des richteriſchen Genies zu-
gewogen, mit der er ſie dem Philoktet zuwiegt.
Nun laſſet einen weiſen griechiſchen Kuͤnſtler von ei-
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/111>, abgerufen am 16.02.2025.
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