[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. mäldes genutzt, und vom Sophokles Laokoon so ge-lernt haben, als Timanthes vom Euripides die weise Verhüllung Agamemnons lernte: so dünkt mich, ich sähe die Waage des Ausdrucks eben auf dem Punkt, auf dem sie bei dem Laokoon des Künstlers schwebet. Das Maas des Seufzers ist ihm zuge- wogen. "Der Schmerz, welcher sich in allen "Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und "den man ganz allein, ohne das Gesicht und andre "Theile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezog- "nen Unterleibe bei nahe selbst zu empfinden glaubt; "dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit "keiner Wuth in dem Gesichte, und in der ganzen "Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei, "wie Virgil von seinem Laokoon singt; die Oeff- "nung des Mundes gestattet es nicht: es ist viel- "mehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie "es Sadolet beschreibt. Der Schmerz des Kör- "pers und die Größe der Seele sind durch den gan- "zen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgethei- "let, und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, "aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: sein "Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir "wünschten, wie dieser große Mann das Elend er- "tragen zu können." Jch kenne nichts würdigers, als diese Worte, und der römische Dichter, der Nachahmer Homers, kommt also gar nicht ins Spiel. Jch
Kritiſche Waͤlder. maͤldes genutzt, und vom Sophokles Laokoon ſo ge-lernt haben, als Timanthes vom Euripides die weiſe Verhuͤllung Agamemnons lernte: ſo duͤnkt mich, ich ſaͤhe die Waage des Ausdrucks eben auf dem Punkt, auf dem ſie bei dem Laokoon des Kuͤnſtlers ſchwebet. Das Maas des Seufzers iſt ihm zuge- wogen. „Der Schmerz, welcher ſich in allen „Muskeln und Sehnen des Koͤrpers entdecket, und „den man ganz allein, ohne das Geſicht und andre „Theile zu betrachten, an dem ſchmerzlich eingezog- „nen Unterleibe bei nahe ſelbſt zu empfinden glaubt; „dieſer Schmerz, ſage ich, aͤußert ſich dennoch mit „keiner Wuth in dem Geſichte, und in der ganzen „Stellung. Er erhebt kein ſchreckliches Geſchrei, „wie Virgil von ſeinem Laokoon ſingt; die Oeff- „nung des Mundes geſtattet es nicht: es iſt viel- „mehr ein aͤngſtliches und beklemmtes Seufzen, wie „es Sadolet beſchreibt. Der Schmerz des Koͤr- „pers und die Groͤße der Seele ſind durch den gan- „zen Bau der Figur mit gleicher Staͤrke ausgethei- „let, und gleichſam abgewogen. Laokoon leidet, „aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: ſein „Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir „wuͤnſchten, wie dieſer große Mann das Elend er- „tragen zu koͤnnen.„ Jch kenne nichts wuͤrdigers, als dieſe Worte, und der roͤmiſche Dichter, der Nachahmer Homers, kommt alſo gar nicht ins Spiel. Jch
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Kritiſche Waͤlder.
maͤldes genutzt, und vom Sophokles Laokoon ſo ge-
lernt haben, als Timanthes vom Euripides die weiſe
Verhuͤllung Agamemnons lernte: ſo duͤnkt mich,
ich ſaͤhe die Waage des Ausdrucks eben auf dem
Punkt, auf dem ſie bei dem Laokoon des Kuͤnſtlers
ſchwebet. Das Maas des Seufzers iſt ihm zuge-
wogen. „Der Schmerz, welcher ſich in allen
„Muskeln und Sehnen des Koͤrpers entdecket, und
„den man ganz allein, ohne das Geſicht und andre
„Theile zu betrachten, an dem ſchmerzlich eingezog-
„nen Unterleibe bei nahe ſelbſt zu empfinden glaubt;
„dieſer Schmerz, ſage ich, aͤußert ſich dennoch mit
„keiner Wuth in dem Geſichte, und in der ganzen
„Stellung. Er erhebt kein ſchreckliches Geſchrei,
„wie Virgil von ſeinem Laokoon ſingt; die Oeff-
„nung des Mundes geſtattet es nicht: es iſt viel-
„mehr ein aͤngſtliches und beklemmtes Seufzen, wie
„es Sadolet beſchreibt. Der Schmerz des Koͤr-
„pers und die Groͤße der Seele ſind durch den gan-
„zen Bau der Figur mit gleicher Staͤrke ausgethei-
„let, und gleichſam abgewogen. Laokoon leidet,
„aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: ſein
„Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir
„wuͤnſchten, wie dieſer große Mann das Elend er-
„tragen zu koͤnnen.„ Jch kenne nichts wuͤrdigers,
als dieſe Worte, und der roͤmiſche Dichter, der
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