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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.
sitorisch a) wäre; nicht so gut! Er machte endlich
aus dieser Ursache einen Grundsatz: die Kunst drü-
cke nichts aus, was sich nicht anders, als transitorisch,
denken läßt: und dies verführt am weitesten. Mit
ihm wird die Kunst tod und entseelt gemacht, sie
wird in jene faule Ruhe versenket, die nur den Klo-
sterheiligen der mittlern Zeit gefallen könnte: sie ver-
liert alle Seele ihres Ausdrucks.

Und welches wäre denn die angebliche Ursache
einer so grausamen kritischen Arznei? Weil eine
transitorische Erscheinung, sie möge angenehm, oder
schrecklich seyn, durch die Verlängerung der Kunst
ein so widernatürliches Ansehen bekomme, daß mit
jeder wiederholten Erblickung
b) -- Jch mag
nicht weiter! Wiederholte Erblickung! jede wieder-
holte Erblickung! wer wird auf diese rechnen? Wer
wird sich in seiner Jugend ein Vergnügen versagen,
weil es endlich mit jedem wiederholtem Genusse
schwächer werden müßte? wer mit sich selbst ha-
dern, mit seiner Empfindung zanken, statt sich un-
gestört dem angenehmen Jetzt zu überlassen, ohne
an die Zukunft zu denken? ohne aus dieser sich selbst
Schatten hervor zu ruffen, die die Freuden von uns
scheuchen? Alle sinnliche Freuden sind bloß für den
ersten Anblick,
und für ihn allein sind auch die
Erscheinungen der schönen Kunst. "La Mettrie,
"der sich als einen zweiten Demokrit malen lassen,

"lacht
a) p. 25.
b) p. 25.

Erſtes Waͤldchen.
ſitoriſch a) waͤre; nicht ſo gut! Er machte endlich
aus dieſer Urſache einen Grundſatz: die Kunſt druͤ-
cke nichts aus, was ſich nicht anders, als tranſitoriſch,
denken laͤßt: und dies verfuͤhrt am weiteſten. Mit
ihm wird die Kunſt tod und entſeelt gemacht, ſie
wird in jene faule Ruhe verſenket, die nur den Klo-
ſterheiligen der mittlern Zeit gefallen koͤnnte: ſie ver-
liert alle Seele ihres Ausdrucks.

Und welches waͤre denn die angebliche Urſache
einer ſo grauſamen kritiſchen Arznei? Weil eine
tranſitoriſche Erſcheinung, ſie moͤge angenehm, oder
ſchrecklich ſeyn, durch die Verlaͤngerung der Kunſt
ein ſo widernatuͤrliches Anſehen bekomme, daß mit
jeder wiederholten Erblickung
b) — Jch mag
nicht weiter! Wiederholte Erblickung! jede wieder-
holte Erblickung! wer wird auf dieſe rechnen? Wer
wird ſich in ſeiner Jugend ein Vergnuͤgen verſagen,
weil es endlich mit jedem wiederholtem Genuſſe
ſchwaͤcher werden muͤßte? wer mit ſich ſelbſt ha-
dern, mit ſeiner Empfindung zanken, ſtatt ſich un-
geſtoͤrt dem angenehmen Jetzt zu uͤberlaſſen, ohne
an die Zukunft zu denken? ohne aus dieſer ſich ſelbſt
Schatten hervor zu ruffen, die die Freuden von uns
ſcheuchen? Alle ſinnliche Freuden ſind bloß fuͤr den
erſten Anblick,
und fuͤr ihn allein ſind auch die
Erſcheinungen der ſchoͤnen Kunſt. „La Mettrie,
„der ſich als einen zweiten Demokrit malen laſſen,

„lacht
a) p. 25.
b) p. 25.
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[111/0117] Erſtes Waͤldchen. ſitoriſch a) waͤre; nicht ſo gut! Er machte endlich aus dieſer Urſache einen Grundſatz: die Kunſt druͤ- cke nichts aus, was ſich nicht anders, als tranſitoriſch, denken laͤßt: und dies verfuͤhrt am weiteſten. Mit ihm wird die Kunſt tod und entſeelt gemacht, ſie wird in jene faule Ruhe verſenket, die nur den Klo- ſterheiligen der mittlern Zeit gefallen koͤnnte: ſie ver- liert alle Seele ihres Ausdrucks. Und welches waͤre denn die angebliche Urſache einer ſo grauſamen kritiſchen Arznei? Weil eine tranſitoriſche Erſcheinung, ſie moͤge angenehm, oder ſchrecklich ſeyn, durch die Verlaͤngerung der Kunſt ein ſo widernatuͤrliches Anſehen bekomme, daß mit jeder wiederholten Erblickung b) — Jch mag nicht weiter! Wiederholte Erblickung! jede wieder- holte Erblickung! wer wird auf dieſe rechnen? Wer wird ſich in ſeiner Jugend ein Vergnuͤgen verſagen, weil es endlich mit jedem wiederholtem Genuſſe ſchwaͤcher werden muͤßte? wer mit ſich ſelbſt ha- dern, mit ſeiner Empfindung zanken, ſtatt ſich un- geſtoͤrt dem angenehmen Jetzt zu uͤberlaſſen, ohne an die Zukunft zu denken? ohne aus dieſer ſich ſelbſt Schatten hervor zu ruffen, die die Freuden von uns ſcheuchen? Alle ſinnliche Freuden ſind bloß fuͤr den erſten Anblick, und fuͤr ihn allein ſind auch die Erſcheinungen der ſchoͤnen Kunſt. „La Mettrie, „der ſich als einen zweiten Demokrit malen laſſen, „lacht a) p. 25. b) p. 25.

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/117>, abgerufen am 21.11.2024.