[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. steht auf einmal da, und so werde es auch betrach-tet: der erste Anblick sey permanent, erschöpfend, ewig, und blos die menschliche Schwachheit, die Schlaffheit unsrer Sinne, und das Unangenehme des langen Anstrengens macht, bei tief zu erforschen- den Werken, vielleicht das zweite, vielleicht hundertste Mal des Anblicks nöthig; darum aber sind alle diese Male doch nur Ein Anblick. Was ich gese- hen habe, muß ich nicht wieder sehen, und was mir nicht durch das vollständige Eine des Anblicks, son- dern nur die Abwechselung, durch die Wiederholung desselben widerlich wird, liegt nicht in der Kunst, son- dern in dem Ueberdruß meines Geschmacks. Kann die- ser nun einen Grundsatz der Kunst bilden? kann er auch nur eine tüchtige Ursache eines andern Satzes abgeben? So räume ich also bei Hrn. L. diese Ursache, als nen
Kritiſche Waͤlder. ſteht auf einmal da, und ſo werde es auch betrach-tet: der erſte Anblick ſey permanent, erſchoͤpfend, ewig, und blos die menſchliche Schwachheit, die Schlaffheit unſrer Sinne, und das Unangenehme des langen Anſtrengens macht, bei tief zu erforſchen- den Werken, vielleicht das zweite, vielleicht hundertſte Mal des Anblicks noͤthig; darum aber ſind alle dieſe Male doch nur Ein Anblick. Was ich geſe- hen habe, muß ich nicht wieder ſehen, und was mir nicht durch das vollſtaͤndige Eine des Anblicks, ſon- dern nur die Abwechſelung, durch die Wiederholung deſſelben widerlich wird, liegt nicht in der Kunſt, ſon- dern in dem Ueberdruß meines Geſchmacks. Kann die- ſer nun einen Grundſatz der Kunſt bilden? kann er auch nur eine tuͤchtige Urſache eines andern Satzes abgeben? So raͤume ich alſo bei Hrn. L. dieſe Urſache, als nen
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Kritiſche Waͤlder.
ſteht auf einmal da, und ſo werde es auch betrach-
tet: der erſte Anblick ſey permanent, erſchoͤpfend,
ewig, und blos die menſchliche Schwachheit, die
Schlaffheit unſrer Sinne, und das Unangenehme
des langen Anſtrengens macht, bei tief zu erforſchen-
den Werken, vielleicht das zweite, vielleicht hundertſte
Mal des Anblicks noͤthig; darum aber ſind alle
dieſe Male doch nur Ein Anblick. Was ich geſe-
hen habe, muß ich nicht wieder ſehen, und was mir
nicht durch das vollſtaͤndige Eine des Anblicks, ſon-
dern nur die Abwechſelung, durch die Wiederholung
deſſelben widerlich wird, liegt nicht in der Kunſt, ſon-
dern in dem Ueberdruß meines Geſchmacks. Kann die-
ſer nun einen Grundſatz der Kunſt bilden? kann er auch
nur eine tuͤchtige Urſache eines andern Satzes abgeben?
So raͤume ich alſo bei Hrn. L. dieſe Urſache, als
Urſache, als Geſetz weg, und denke damit gnug zu
haben, daß der hoͤchſte Affekt dem erſten Anblicke
widerlich, und der Einbildungskraft gleichſam zu
enge ſey, folglich in der Kunſt muͤſſe wenigſtens als
Hauptanblick vermieden werden. Wenn die Wir-
kung der Kunſt ein Werk iſt, zu Einem, aber
gleichſam ewigen Anſchauen gebildet: ſo muß dieſer
Eine Anblick auch ſo viel Schoͤnes fuͤr das Auge, und
ſo viel Fruchtbares fuͤr die Einbildungskraft enthal-
ten, als er enthalten kann. Daher kommt das
Unendliche und Unermaͤßliche in dieſer bildenden
Kunſt, das ſie vor allen andern Kuͤnſten des Schoͤ-
nen
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