[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. gedacht haben? stirbt dir nicht dein gesenkter Kopf,und dein erhabner Finger? Seufzender Laokoon, wie lange wirst du seufzen? So oft ich dich sehe, ist dir noch die Brust beklemmt, der Unterleib einge- zogen? ein transitorischer Augenblick, ein Seuf- zer, ist bei dir widernatürlich verlängert. Der donnerwerfende Jupiter, und die schreitende Diana, der den Atlas tragende Herkules, und jede Figur in der mindsten Handlung und Bewegung, ja auch nur in jedem Zustande des Körpers ist alsdenn wi- dernatürlich verlängert: denn keine derselben dauret ja ewig. So wird also, wenn die vorstehende Mei- nung Grundsatz würde, das Wesen der Kunst zerstört. Es kann also auch nicht als Ursache gelten, Jedes Werk der bildenden Kunst ist, wenn wir steht H
Erſtes Waͤldchen. gedacht haben? ſtirbt dir nicht dein geſenkter Kopf,und dein erhabner Finger? Seufzender Laokoon, wie lange wirſt du ſeufzen? So oft ich dich ſehe, iſt dir noch die Bruſt beklemmt, der Unterleib einge- zogen? ein tranſitoriſcher Augenblick, ein Seuf- zer, iſt bei dir widernatuͤrlich verlaͤngert. Der donnerwerfende Jupiter, und die ſchreitende Diana, der den Atlas tragende Herkules, und jede Figur in der mindſten Handlung und Bewegung, ja auch nur in jedem Zuſtande des Koͤrpers iſt alsdenn wi- dernatuͤrlich verlaͤngert: denn keine derſelben dauret ja ewig. So wird alſo, wenn die vorſtehende Mei- nung Grundſatz wuͤrde, das Weſen der Kunſt zerſtoͤrt. Es kann alſo auch nicht als Urſache gelten, Jedes Werk der bildenden Kunſt iſt, wenn wir ſteht H
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Erſtes Waͤldchen.
gedacht haben? ſtirbt dir nicht dein geſenkter Kopf,
und dein erhabner Finger? Seufzender Laokoon,
wie lange wirſt du ſeufzen? So oft ich dich ſehe, iſt
dir noch die Bruſt beklemmt, der Unterleib einge-
zogen? ein tranſitoriſcher Augenblick, ein Seuf-
zer, iſt bei dir widernatuͤrlich verlaͤngert. Der
donnerwerfende Jupiter, und die ſchreitende Diana,
der den Atlas tragende Herkules, und jede Figur in
der mindſten Handlung und Bewegung, ja auch
nur in jedem Zuſtande des Koͤrpers iſt alsdenn wi-
dernatuͤrlich verlaͤngert: denn keine derſelben dauret
ja ewig. So wird alſo, wenn die vorſtehende Mei-
nung Grundſatz wuͤrde, das Weſen der Kunſt
zerſtoͤrt.
Es kann alſo auch nicht als Urſache gelten,
warum die Kunſt keine Hoͤhe des Affekts ausdruͤcken
muͤßte: es iſt nicht Delikateſſe, ſondern Ekel des
Geſchmacks.
Jedes Werk der bildenden Kunſt iſt, wenn wir
uns die Eintheilung Ariſtoteles gefallen laſſen, ein
Werk und keine Energie: es iſt in allen ſeinen
Theilen auf einmal da: ſein Weſen beſteht nicht
in der Veraͤnderung, in der Folge auf einander, ſon-
dern im Coexiſtiren neben einander. Hat alſo
der Kuͤnſtler es dem erſten aber ganzen und genaue-
ſten Anblicke, der eine vollſtaͤndige Jdee liefern muß,
vollkommen gemacht; ſo hat er ſeinen Zweck erreicht,
die Wirkung bleibet ewig: es iſt ein Werk. Es
ſteht
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