[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. nere, erinnere ich mich nicht jedesmal an einenSchreienden? denn auf andre Art hat er bei seinem Schmerze seine Seele nicht gezeigt. Nun ändert sich der Gesichtspunkt. Es muß aus dem We- sen der Poesie, aus dem energischen Zwecke des Dich- ters erklärt werden, ob dieser Zug von Laokoon, die- se einzige Aeußerung seiner Empfindung, in mei- ner Einbildungskraft Hauptfigur, bleibender Ein- druck werden sollte? Nicht gnug, daß clamores horrendos ad sidera tollit ein erhabner Zug für das Gehör sey; (wenn ich einen Zug für das Gehör verstehe) es muß auch dem Dichter daran gelegen seyn, ihn zum Hauptzuge Laokoons in meiner Phan- tasie zu machen. Jst dies nicht, so hat der Dich- ter, wenn ich gleich kein schönes Bild verlange, doch auf mich seinen ganzen Eindruck verfehlt -- Es ist nicht mein Zweck, dies bei Virgil zu unter- Wie H 4
Erſtes Waͤldchen. nere, erinnere ich mich nicht jedesmal an einenSchreienden? denn auf andre Art hat er bei ſeinem Schmerze ſeine Seele nicht gezeigt. Nun aͤndert ſich der Geſichtspunkt. Es muß aus dem We- ſen der Poeſie, aus dem energiſchen Zwecke des Dich- ters erklaͤrt werden, ob dieſer Zug von Laokoon, die- ſe einzige Aeußerung ſeiner Empfindung, in mei- ner Einbildungskraft Hauptfigur, bleibender Ein- druck werden ſollte? Nicht gnug, daß clamores horrendos ad ſidera tollit ein erhabner Zug fuͤr das Gehoͤr ſey; (wenn ich einen Zug fuͤr das Gehoͤr verſtehe) es muß auch dem Dichter daran gelegen ſeyn, ihn zum Hauptzuge Laokoons in meiner Phan- taſie zu machen. Jſt dies nicht, ſo hat der Dich- ter, wenn ich gleich kein ſchoͤnes Bild verlange, doch auf mich ſeinen ganzen Eindruck verfehlt — Es iſt nicht mein Zweck, dies bei Virgil zu unter- Wie H 4
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Erſtes Waͤldchen.
nere, erinnere ich mich nicht jedesmal an einen
Schreienden? denn auf andre Art hat er bei ſeinem
Schmerze ſeine Seele nicht gezeigt. Nun aͤndert
ſich der Geſichtspunkt. Es muß aus dem We-
ſen der Poeſie, aus dem energiſchen Zwecke des Dich-
ters erklaͤrt werden, ob dieſer Zug von Laokoon, die-
ſe einzige Aeußerung ſeiner Empfindung, in mei-
ner Einbildungskraft Hauptfigur, bleibender Ein-
druck werden ſollte? Nicht gnug, daß clamores
horrendos ad ſidera tollit ein erhabner Zug fuͤr
das Gehoͤr ſey; (wenn ich einen Zug fuͤr das Gehoͤr
verſtehe) es muß auch dem Dichter daran gelegen
ſeyn, ihn zum Hauptzuge Laokoons in meiner Phan-
taſie zu machen. Jſt dies nicht, ſo hat der Dich-
ter, wenn ich gleich kein ſchoͤnes Bild verlange,
doch auf mich ſeinen ganzen Eindruck verfehlt —
Es iſt nicht mein Zweck, dies bei Virgil zu unter-
ſuchen. Jch habe Winkelmann gerechtfertigt, der (viel-
leicht nur gar hiſtoriſch) ſagen kann: „der Laokoon des
„Kuͤnſtlers ſchreiet nicht, wie der Laokoon des Vir-
„gils.„ Jch habe die Urſache, die Hr. L. giebt vom Un-
terſchiede beider Kuͤnſte, gepruͤft, und auf das Eine
des Anblicks zuruͤckgefuͤhrt, in dem ſich die bildende,
und keine andre Kunſt zeige. Jch wollte, daß Hr. L. in
ſeinem ganzen Werke dieſen Unterſchied des Ariſtoteles
zwiſchen Werk und Energie zum Grunde gelegt haͤt-
te: denn alle ſeine Theilunterſchiede, die er angiebt, lau-
fen doch endlich auf dieſen Hauptunterſchied hinaus.
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