[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.
Kritische Wälder. "Kunstwerken kein Exempel findet." Nun! so weithätte man es doch nicht führen dörfen! Mars in dem gegenwärtigen Falle ist ja nichts minder, als ein schwebender Körper, ein ohne scheinbare Ursache schwebender Körper, der ungereimt wäre, der das Auge beleidigte, der die Regeln der Bewegung, der Schwere, des körperlichen Gleichgewichts aufhübe -- wo ist dieß alles unser Mars? Es ist ein sich herabsenkender Körper, der eben nach den Regeln der Bewegung und Schwere und des Gleichgewichts die Erde sucht, oder mit Shakespears schönem Aus- drucke vom Merkur, der mit seinem Fuße den Hügel küsset. Auf einem Kunstwerke von so wenigem Umfange denkt ja niemand, daß dieser herabschwe- bende Mars vom Himmel gekommen, daß er sich durch die Luft gestürzt, daß er in ihr ohne Flügel und Leitband gehangen: wie es also sey, daß er noch so glücklich herabkomme -- hieran denkt niemand, denn er sieht Mars nur so fern, als er die Erde be- tritt. Es ist das Niedersenken, wie von einem sanften Sprunge, und dazu braucht man kein Gott zu seyn, oder sich einen Gott von ganz andern Re- geln der Bewegung, der Schwere, des Gleichge- wichts denken zu müssen: die sanfte Stellung kann je- der dem Mars nachthun, und der Künstler sie ohne Ungereimtheit wählen. -- Der ganze Allgemein- satz ist also hier kaum an seiner Stelle, und in der Weite, die ihm Hr. L. giebt, leidet er Einschrän- kung.
Kritiſche Waͤlder. „Kunſtwerken kein Exempel findet.„ Nun! ſo weithaͤtte man es doch nicht fuͤhren doͤrfen! Mars in dem gegenwaͤrtigen Falle iſt ja nichts minder, als ein ſchwebender Koͤrper, ein ohne ſcheinbare Urſache ſchwebender Koͤrper, der ungereimt waͤre, der das Auge beleidigte, der die Regeln der Bewegung, der Schwere, des koͤrperlichen Gleichgewichts aufhuͤbe — wo iſt dieß alles unſer Mars? Es iſt ein ſich herabſenkender Koͤrper, der eben nach den Regeln der Bewegung und Schwere und des Gleichgewichts die Erde ſucht, oder mit Shakeſpears ſchoͤnem Aus- drucke vom Merkur, der mit ſeinem Fuße den Huͤgel kuͤſſet. Auf einem Kunſtwerke von ſo wenigem Umfange denkt ja niemand, daß dieſer herabſchwe- bende Mars vom Himmel gekommen, daß er ſich durch die Luft geſtuͤrzt, daß er in ihr ohne Fluͤgel und Leitband gehangen: wie es alſo ſey, daß er noch ſo gluͤcklich herabkomme — hieran denkt niemand, denn er ſieht Mars nur ſo fern, als er die Erde be- tritt. Es iſt das Niederſenken, wie von einem ſanften Sprunge, und dazu braucht man kein Gott zu ſeyn, oder ſich einen Gott von ganz andern Re- geln der Bewegung, der Schwere, des Gleichge- wichts denken zu muͤſſen: die ſanfte Stellung kann je- der dem Mars nachthun, und der Kuͤnſtler ſie ohne Ungereimtheit waͤhlen. — Der ganze Allgemein- ſatz iſt alſo hier kaum an ſeiner Stelle, und in der Weite, die ihm Hr. L. giebt, leidet er Einſchraͤn- kung.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0130" n="124"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kritiſche Waͤlder.</hi></fw><lb/> „Kunſtwerken kein Exempel findet.„ Nun! ſo weit<lb/> haͤtte man es doch nicht fuͤhren doͤrfen! Mars in dem<lb/> gegenwaͤrtigen Falle iſt ja nichts minder, als ein<lb/> ſchwebender Koͤrper, ein ohne ſcheinbare Urſache<lb/> ſchwebender Koͤrper, der ungereimt waͤre, der das<lb/> Auge beleidigte, der die Regeln der Bewegung, der<lb/> Schwere, des koͤrperlichen Gleichgewichts aufhuͤbe<lb/> — wo iſt dieß alles unſer Mars? Es iſt ein ſich<lb/> herabſenkender Koͤrper, der eben nach den Regeln<lb/> der Bewegung und Schwere und des Gleichgewichts<lb/> die Erde ſucht, oder mit Shakeſpears ſchoͤnem Aus-<lb/> drucke vom Merkur, der mit ſeinem Fuße den Huͤgel<lb/> kuͤſſet. Auf einem Kunſtwerke von ſo wenigem<lb/> Umfange denkt ja niemand, daß dieſer herabſchwe-<lb/> bende Mars vom Himmel gekommen, daß er ſich<lb/> durch die Luft geſtuͤrzt, daß er in ihr ohne Fluͤgel<lb/> und Leitband gehangen: wie es alſo ſey, daß er noch<lb/> ſo gluͤcklich herabkomme — hieran denkt niemand,<lb/> denn er ſieht Mars nur ſo fern, als er die Erde be-<lb/> tritt. Es iſt das Niederſenken, wie von einem<lb/> ſanften Sprunge, und dazu braucht man kein Gott<lb/> zu ſeyn, oder ſich einen Gott von ganz andern Re-<lb/> geln der Bewegung, der Schwere, des Gleichge-<lb/> wichts denken zu muͤſſen: die ſanfte Stellung kann je-<lb/> der dem Mars nachthun, und der Kuͤnſtler ſie ohne<lb/> Ungereimtheit waͤhlen. — Der ganze Allgemein-<lb/> ſatz iſt alſo hier kaum an ſeiner Stelle, und in der<lb/> Weite, die ihm Hr. L. giebt, leidet er Einſchraͤn-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">kung.</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [124/0130]
Kritiſche Waͤlder.
„Kunſtwerken kein Exempel findet.„ Nun! ſo weit
haͤtte man es doch nicht fuͤhren doͤrfen! Mars in dem
gegenwaͤrtigen Falle iſt ja nichts minder, als ein
ſchwebender Koͤrper, ein ohne ſcheinbare Urſache
ſchwebender Koͤrper, der ungereimt waͤre, der das
Auge beleidigte, der die Regeln der Bewegung, der
Schwere, des koͤrperlichen Gleichgewichts aufhuͤbe
— wo iſt dieß alles unſer Mars? Es iſt ein ſich
herabſenkender Koͤrper, der eben nach den Regeln
der Bewegung und Schwere und des Gleichgewichts
die Erde ſucht, oder mit Shakeſpears ſchoͤnem Aus-
drucke vom Merkur, der mit ſeinem Fuße den Huͤgel
kuͤſſet. Auf einem Kunſtwerke von ſo wenigem
Umfange denkt ja niemand, daß dieſer herabſchwe-
bende Mars vom Himmel gekommen, daß er ſich
durch die Luft geſtuͤrzt, daß er in ihr ohne Fluͤgel
und Leitband gehangen: wie es alſo ſey, daß er noch
ſo gluͤcklich herabkomme — hieran denkt niemand,
denn er ſieht Mars nur ſo fern, als er die Erde be-
tritt. Es iſt das Niederſenken, wie von einem
ſanften Sprunge, und dazu braucht man kein Gott
zu ſeyn, oder ſich einen Gott von ganz andern Re-
geln der Bewegung, der Schwere, des Gleichge-
wichts denken zu muͤſſen: die ſanfte Stellung kann je-
der dem Mars nachthun, und der Kuͤnſtler ſie ohne
Ungereimtheit waͤhlen. — Der ganze Allgemein-
ſatz iſt alſo hier kaum an ſeiner Stelle, und in der
Weite, die ihm Hr. L. giebt, leidet er Einſchraͤn-
kung.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/130 |
| Zitationshilfe: | [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/130>, abgerufen am 18.12.2024. |
