So wie Er gerne in seiner Schöpfung zwischen Himmel und Erde bleibt a): so überspannet er auch nie gern die Phantasie in dem Maaße der Größe. Wo ein Zug hierüber nöthig war, ward er einge- streuet, und gelindert.
Jnsonderheit unter Menschen gelindert: denn zu einem Göttertreffen b), und einem Götterhimmel, ist schon eine kleine Ueberspannung zum Wunderba- ren moron seiner Götter nothwendig. Wer kann etwas schildern, das er nie gesehen, das er blos durch Menschenerhöhung trifft?
Und auch hier ists für mich kein Axiom, "daß "der Dichter seinen Göttern eine Größe gegeben, "die alle natürliche Maaße weit übersteiget." Denn Homer hat bei dem Unendlichen selbst lauter natür- liche Maaße, und auch deßwegen unter tausend an- dern Ursachen ist er mein Dichter.
Ob endlich die Bildhauer das Kolossalische, das sie ihren Götterstatuen öfters ertheilten, aus Homer entlehnt? c) -- Diese Frage dünkt mich so, als jene indianische: worauf ruht die Erde? auf einem Ele- phanten! und worauf der Elephant? -- Von wem nämlich mag denn Homer das Kolossalische entlehnt haben, das er, hie und da, diesem und jenem Gotte giebt? Mich dünkt, man könne in Aegypten den Ursprung von diesen und mehreren homerischen
Jdeen
a)Iliad. Th. 13-16.
b)Iliad. G. 385 --
c) Laok. p. 136.
M 4
Erſtes Waͤldchen.
So wie Er gerne in ſeiner Schoͤpfung zwiſchen Himmel und Erde bleibt a): ſo uͤberſpannet er auch nie gern die Phantaſie in dem Maaße der Groͤße. Wo ein Zug hieruͤber noͤthig war, ward er einge- ſtreuet, und gelindert.
Jnſonderheit unter Menſchen gelindert: denn zu einem Goͤttertreffen b), und einem Goͤtterhimmel, iſt ſchon eine kleine Ueberſpannung zum Wunderba- ren μωρον ſeiner Goͤtter nothwendig. Wer kann etwas ſchildern, das er nie geſehen, das er blos durch Menſchenerhoͤhung trifft?
Und auch hier iſts fuͤr mich kein Axiom, „daß „der Dichter ſeinen Goͤttern eine Groͤße gegeben, „die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberſteiget.„ Denn Homer hat bei dem Unendlichen ſelbſt lauter natuͤr- liche Maaße, und auch deßwegen unter tauſend an- dern Urſachen iſt er mein Dichter.
Ob endlich die Bildhauer das Koloſſaliſche, das ſie ihren Goͤtterſtatuen oͤfters ertheilten, aus Homer entlehnt? c) — Dieſe Frage duͤnkt mich ſo, als jene indianiſche: worauf ruht die Erde? auf einem Ele- phanten! und worauf der Elephant? — Von wem naͤmlich mag denn Homer das Koloſſaliſche entlehnt haben, das er, hie und da, dieſem und jenem Gotte giebt? Mich duͤnkt, man koͤnne in Aegypten den Urſprung von dieſen und mehreren homeriſchen
Jdeen
a)Iliad. Θ. 13-16.
b)Iliad. Γ. 385 —
c) Laok. p. 136.
M 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0189"n="183"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Erſtes Waͤldchen.</hi></fw><lb/><p>So wie Er gerne in ſeiner Schoͤpfung zwiſchen<lb/>
Himmel und Erde bleibt <noteplace="foot"n="a)"><hirendition="#aq">Iliad.</hi>Θ. 13-16.</note>: ſo uͤberſpannet er auch<lb/>
nie gern die Phantaſie in dem Maaße der Groͤße.<lb/>
Wo ein Zug hieruͤber noͤthig war, ward er einge-<lb/>ſtreuet, und gelindert.</p><lb/><p>Jnſonderheit unter Menſchen gelindert: denn<lb/>
zu einem Goͤttertreffen <noteplace="foot"n="b)"><hirendition="#aq">Iliad.</hi>Γ. 385 —</note>, und einem Goͤtterhimmel,<lb/>
iſt ſchon eine kleine Ueberſpannung zum Wunderba-<lb/>
ren μωρονſeiner Goͤtter nothwendig. Wer kann<lb/>
etwas ſchildern, das er nie geſehen, das er blos durch<lb/>
Menſchenerhoͤhung trifft?</p><lb/><p>Und auch hier iſts fuͤr mich kein Axiom, „daß<lb/>„der Dichter ſeinen Goͤttern eine Groͤße gegeben,<lb/>„die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberſteiget.„ Denn<lb/>
Homer hat bei dem Unendlichen ſelbſt lauter natuͤr-<lb/>
liche Maaße, und auch deßwegen unter tauſend an-<lb/>
dern Urſachen iſt er mein Dichter.</p><lb/><p>Ob endlich die Bildhauer das Koloſſaliſche, das<lb/>ſie ihren Goͤtterſtatuen oͤfters ertheilten, aus Homer<lb/>
entlehnt? <noteplace="foot"n="c)">Laok. <hirendition="#aq">p.</hi> 136.</note>— Dieſe Frage duͤnkt mich ſo, als jene<lb/>
indianiſche: worauf ruht die Erde? auf einem Ele-<lb/>
phanten! und worauf der Elephant? — Von wem<lb/>
naͤmlich mag denn Homer das Koloſſaliſche entlehnt<lb/>
haben, das er, hie und da, dieſem und jenem Gotte<lb/>
giebt? Mich duͤnkt, man koͤnne in Aegypten den<lb/>
Urſprung von dieſen und mehreren homeriſchen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">M 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">Jdeen</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[183/0189]
Erſtes Waͤldchen.
So wie Er gerne in ſeiner Schoͤpfung zwiſchen
Himmel und Erde bleibt a): ſo uͤberſpannet er auch
nie gern die Phantaſie in dem Maaße der Groͤße.
Wo ein Zug hieruͤber noͤthig war, ward er einge-
ſtreuet, und gelindert.
Jnſonderheit unter Menſchen gelindert: denn
zu einem Goͤttertreffen b), und einem Goͤtterhimmel,
iſt ſchon eine kleine Ueberſpannung zum Wunderba-
ren μωρον ſeiner Goͤtter nothwendig. Wer kann
etwas ſchildern, das er nie geſehen, das er blos durch
Menſchenerhoͤhung trifft?
Und auch hier iſts fuͤr mich kein Axiom, „daß
„der Dichter ſeinen Goͤttern eine Groͤße gegeben,
„die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberſteiget.„ Denn
Homer hat bei dem Unendlichen ſelbſt lauter natuͤr-
liche Maaße, und auch deßwegen unter tauſend an-
dern Urſachen iſt er mein Dichter.
Ob endlich die Bildhauer das Koloſſaliſche, das
ſie ihren Goͤtterſtatuen oͤfters ertheilten, aus Homer
entlehnt? c) — Dieſe Frage duͤnkt mich ſo, als jene
indianiſche: worauf ruht die Erde? auf einem Ele-
phanten! und worauf der Elephant? — Von wem
naͤmlich mag denn Homer das Koloſſaliſche entlehnt
haben, das er, hie und da, dieſem und jenem Gotte
giebt? Mich duͤnkt, man koͤnne in Aegypten den
Urſprung von dieſen und mehreren homeriſchen
Jdeen
a) Iliad. Θ. 13-16.
b) Iliad. Γ. 385 —
c) Laok. p. 136.
M 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/189>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.