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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.
drucks, die Poesie einer fremden Sprache in die un-
sere zu prosaisiren, oder wenn man lieber will, die
Prose unsrer Sprache so geschickt zum einfältigen
Adel der Poesie eines fremden Ausdrucks zu erheben,
daß ihn die Muse unsres Vaterlandes bestimmt zu
haben schien, der Mund fremder Nationen unter
uns zu werden. Dies ist, wie ich glaube, der
Hauptzug seiner Verdienste; und wie hätte er diese
durch eine Uebersetzung Homers nicht gesteigert!
Grieche muß ich überdem schon werden, wenn ich
Homer lese, ich lese ihn, wo ich wolle: warum denn
nicht in meiner Muttersprache? Jnsgeheim muß ich
ihn doch in dieser schon jetzo lesen: insgeheim über-
setzt ihn sich die Seele des Lesers, wo sie kann, selbst
wenn sie ihn griechisch hört: und ich sinnlicher Leser!
ich kann mir ohne diese geheime Gedankenübersetzung
sogar kein wahrhaftig nutzbares und lebendiges Le-
sen Homers denken. Nur denn erst lese ich, als
hörte ich ihn, wenn ich mir ihn übersetze: er singet
mir griechisch vor, und eben so schnell, so harmo-
nisch, so edel suchen ihn meine deutschen Gedanken
nachzufliegen: alsdenn und alsdenn nur vermag ich
mir und andern von Homer lebendige bestimmte Re-
chenschaft zu geben, und ihn mit ganzer Seele zu
fühlen. Jn jedem andern Falle, glaube ich, lieset
man ihn als Commentator, als Scholiast, als
Schulgelehrter, oder Sprachlehrling, und dies Le-
sen ist unbestimmt oder todt. Ein anderes ist,

sagt
M 5

Erſtes Waͤldchen.
drucks, die Poeſie einer fremden Sprache in die un-
ſere zu proſaiſiren, oder wenn man lieber will, die
Proſe unſrer Sprache ſo geſchickt zum einfaͤltigen
Adel der Poeſie eines fremden Ausdrucks zu erheben,
daß ihn die Muſe unſres Vaterlandes beſtimmt zu
haben ſchien, der Mund fremder Nationen unter
uns zu werden. Dies iſt, wie ich glaube, der
Hauptzug ſeiner Verdienſte; und wie haͤtte er dieſe
durch eine Ueberſetzung Homers nicht geſteigert!
Grieche muß ich uͤberdem ſchon werden, wenn ich
Homer leſe, ich leſe ihn, wo ich wolle: warum denn
nicht in meiner Mutterſprache? Jnsgeheim muß ich
ihn doch in dieſer ſchon jetzo leſen: insgeheim uͤber-
ſetzt ihn ſich die Seele des Leſers, wo ſie kann, ſelbſt
wenn ſie ihn griechiſch hoͤrt: und ich ſinnlicher Leſer!
ich kann mir ohne dieſe geheime Gedankenuͤberſetzung
ſogar kein wahrhaftig nutzbares und lebendiges Le-
ſen Homers denken. Nur denn erſt leſe ich, als
hoͤrte ich ihn, wenn ich mir ihn uͤberſetze: er ſinget
mir griechiſch vor, und eben ſo ſchnell, ſo harmo-
niſch, ſo edel ſuchen ihn meine deutſchen Gedanken
nachzufliegen: alsdenn und alsdenn nur vermag ich
mir und andern von Homer lebendige beſtimmte Re-
chenſchaft zu geben, und ihn mit ganzer Seele zu
fuͤhlen. Jn jedem andern Falle, glaube ich, lieſet
man ihn als Commentator, als Scholiaſt, als
Schulgelehrter, oder Sprachlehrling, und dies Le-
ſen iſt unbeſtimmt oder todt. Ein anderes iſt,

ſagt
M 5
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[185/0191] Erſtes Waͤldchen. drucks, die Poeſie einer fremden Sprache in die un- ſere zu proſaiſiren, oder wenn man lieber will, die Proſe unſrer Sprache ſo geſchickt zum einfaͤltigen Adel der Poeſie eines fremden Ausdrucks zu erheben, daß ihn die Muſe unſres Vaterlandes beſtimmt zu haben ſchien, der Mund fremder Nationen unter uns zu werden. Dies iſt, wie ich glaube, der Hauptzug ſeiner Verdienſte; und wie haͤtte er dieſe durch eine Ueberſetzung Homers nicht geſteigert! Grieche muß ich uͤberdem ſchon werden, wenn ich Homer leſe, ich leſe ihn, wo ich wolle: warum denn nicht in meiner Mutterſprache? Jnsgeheim muß ich ihn doch in dieſer ſchon jetzo leſen: insgeheim uͤber- ſetzt ihn ſich die Seele des Leſers, wo ſie kann, ſelbſt wenn ſie ihn griechiſch hoͤrt: und ich ſinnlicher Leſer! ich kann mir ohne dieſe geheime Gedankenuͤberſetzung ſogar kein wahrhaftig nutzbares und lebendiges Le- ſen Homers denken. Nur denn erſt leſe ich, als hoͤrte ich ihn, wenn ich mir ihn uͤberſetze: er ſinget mir griechiſch vor, und eben ſo ſchnell, ſo harmo- niſch, ſo edel ſuchen ihn meine deutſchen Gedanken nachzufliegen: alsdenn und alsdenn nur vermag ich mir und andern von Homer lebendige beſtimmte Re- chenſchaft zu geben, und ihn mit ganzer Seele zu fuͤhlen. Jn jedem andern Falle, glaube ich, lieſet man ihn als Commentator, als Scholiaſt, als Schulgelehrter, oder Sprachlehrling, und dies Le- ſen iſt unbeſtimmt oder todt. Ein anderes iſt, ſagt M 5

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/191>, abgerufen am 28.11.2024.